In letzter Sekunde: Woher kommt der russische Hang zur Prokrastination?

Byron Howard, Rich Moore, Jared Bush/Walt Disney Pictures, 2016
Historiker glauben, dass der Drang, Arbeit aufzuschieben, in den russischen Genen liegt.

„Ok, es ist noch eine Weile hin bis zum Abgabetermin. Ich habe genug Zeit, die Arbeit entspannt fertigzustellen!“. Das dachte ich auch, als es um diesen Artikel ging. Jedoch habe ich lediglich einiges zum Thema gelesen und viel nachgedacht. Mit dem Schreiben habe ich erst am Abend vor dem Abgabetag angefangen. 

Das kommt Ihnen bekannt vor? Der Fachausdruck für die Angewohnheit, alles aufzuschieben und erst in letzter Minute zu erledigen, heißt Prokrastination. Es ist ein internationales Phänomen, doch für uns Russen so etwas wie ein nationales Erkennungsmerkmal. Das ist natürlich ein Pauschalurteil und mag nicht auf jeden Russen zutreffen. Aber Begriffe wie „Faulheit“, „Disziplinlosigkeit“ oder „Prokrastination“ fallen regelmäßig in Diskussionen über russische Mentalität. Diese Worte sind zwar keine Synonyme, hängen jedoch eng zusammen.

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Selten macht sich jemand die Mühe, tiefer zu forschen und herauszufinden, was hinter diesen Vorurteilen steckt. Doch wir wissen, dass es in diesem Fall eine Erklärung gibt!  

Harte Arbeit hat sich in Russland nicht immer ausgezahlt 

Experten vermuten, dass die Entwicklung der russischen Mentalität eng mit den einzigartigen natürlichen Gegebenheiten zusammenhängt. Laut Historiker Leonid Milow (1929-2007) waren die Bauern im Land über Jahrhunderte gezwungen, ihre Aktivitäten nach den Jahreszeiten auszurichten (rus). Das bedeutete lange Winter und kurze Sommer und wenig Zeit für die Arbeit in der Landwirtschaft. 

„[Die Saison] dauerte von Mitte April bis Mitte September (oder Mitte Mai bis Mitte Oktober, nach moderner Lesart)... Während in Westeuropa [Bauern] die ganze Zeit arbeiten konnten, außer im Dezember und Januar. Dieser Unterschied in den Bedingungen für die landwirtschaftliche Produktion hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung West- und Osteuropas“, schreibt er. 

Diese ohnehin ungünstige Ausgangslage wurde nach Milow noch weiter verschärft durch ein Missverhältnis zwischen erforderlichem Arbeitsaufwand und Ernteertrag. Sie konnten noch so hart arbeiten. Es war dennoch nicht auszuschließen, dass eine unvorhersehbare Wetterlage all Ihre Bemühungen und damit die Ernte zunichtemachte.

„Russische Bauern waren jahrhundertelang gewissermaßen Geiseln der Natur. Sie konnten jederzeit in eine missliche Lage geraten, die verhinderte, dass sie ihre Nutzfläche erweitern, eine Alternative wählen oder durch den Einsatz von Arbeit und Kapital die Produktivität steigern konnten“, meinte Milow.

Er glaubte jedoch, dass dies die Bauern zu mehr Fleiß angestachelt habe, sie zugleich jedoch sehr skeptisch gegenüber dem Nutzen der eigenen Bemühungen geworden seien und fatalistisch. Sie setzten darauf, dass sich die Dinge schon irgendwie fügen würden, entweder durch die Hilfe Gottes oder durch Awos, eine glückliche Wendung des Schicksals. 

Warum kontinuierliches Arbeiten nicht unsere Sache ist 

Der führende Historiker im späten kaiserlichen Russland, Wassili Kljutschewski (1841-1911), vertrat eine ähnliche Ansicht. „Eines weiß ein jeder Russe: Einen freundlichen Sommertag muss man für die Arbeit nutzen, das wird der Landwirtschaft von der Natur selten gegeben. Im kurzen russischen Sommer kann das Wetter plötzlich schlecht werden“, schrieb (rus) er. 

Auf diese Weise lehrte die Natur die Russen, in kurzer Zeit so viel wie möglich ihrer Arbeit zu erledigen. Über Generationen hinweg gewöhnten sie sich daran, unter großem Druck zu arbeiten und sich dann eine Weile zurückzulehnen und weniger anstrengenden Tätigkeiten nachzugehen, zum Beispiel dem Handwerken.

„Es gibt keine anderen Europäer, die in so kurzer Zeit zu so harter Arbeit fähig sind ... Aber es gibt auch keine anderen [Menschen] in Europa, die weniger an regelmäßige harte Arbeit gewöhnt sind als die Russen“, behauptete Kljutschewski. 

So mussten die Bauern also immer wieder ihre Energie bündeln, um zwischenzeitlich schwer zu arbeiten. Perioden „geringer Aktivität“ (die einige Ausländer eventuell für Faulheit halten), wechseln sich ab mit Perioden der „Mobilisierung“, was nicht nur für den Beginn der Landwirtschaftssaison galt, sondern auch für Kriege, Revolutionen, politische Unruhen.

In solchen Krisensituationen zeigen die Russen ihre Vorzüge. Eigenschaften wie Heldenmut, Führungsstärke, Selbstaufopferung und Ausdauer.

Natürlich müssen die Russen in der heutigen Zeit im Sommer nicht hart arbeiten, um das Überleben im Winter zu sichern, aber wir könnten unterbewusst noch immer diesem Muster folgen. 

Da wir inzwischen das ganze Jahr über arbeiten, schaffen wir womöglich unbewusst immer wieder die Voraussetzungen, um unsere Stärken unter Beweis stellen zu können. Was eignet sich da besser als zum Beispiel eine Frist, die es einzuhalten gilt? Nur unter solchen Bedingungen scheinen wir über uns hinauszuwachsen.  

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