1923 schrieb die russische Kommunistin Alexandra Kollontai in ihrem Artikel „Macht den Weg frei für den beflügelten Eros (Brief an die werktätige Jugend)“ metaphorisch von den „geistigen Klemmen“, die einen Ehemann und seine Gattin zusammenhalten. Viele Jahre später, 2012, reaktivierte Wladimir Putin das Schlagwort in einer Rede vor dem Föderationsversammlung und bemängelte: „Die russische Gesellschaft leidet heutzutage unter einem offensichtlichen Mangel an den geistigen Klammern, die uns größer, stärker und stolzer gemacht haben.“
Das Neujahrsfest am 1. Januar, der Tag des Verteidigers des Vaterlandes am 23. Februar, der Internationale Frauentag am 8. März und das Ende des Zweiten Weltkrieges am 9. Mai. Jedes russische Kind kennt diese Feiertage und die mit ihnen verbundenen Traditionen. Selbst für Auslandsrussen, die diese Tage überhaupt nicht mehr feiern, ist es ein Akt der Unmöglichkeit, Verwandte davon abzuhalten, am 9. Mai Bilder von Blumen und Sankt-Georgs-Bändern zu senden.
Menschen, die beispielsweise aus Tjumen kommen, reden von Flügen zu Verwandten „auf dem Land“ genauso selbstverständlich wie ein Moskauer davon reden würde, mit einem Vorortzug auf seine Datscha zu fahren. Aber selbst innerhalb der Hauptstadt sind die Entfernungen für europäische Gewohnheiten riesig. (Ich selbst gehe auf meinem Rückweg von der Arbeit rund drei Kilometer zu Fuß). Entsprechend sind Russen an lange Wege gewöhnt. Daher kommt auch die - seinerzeit schon von dem bekannten Schriftsteller Nikolai Gogol beobachtete – Liebe zum schnellen Fahren. Bis heute werden die meisten Verkehrsstrafen in Russland wegen Geschwindigkeitsverstößen ausgesprochen.
Es scheint, als hätten die Russen es quasi im Blut, Dinge in letzter Minute zu erledigen. Studierende schreiben ihre Hausarbeiten in der letzten Nacht vor dem Abgabetermin; Buchhalter schreiben die Bilanzen normalerweise an den letzten beiden Tagen des Jahres (nicht zuletzt weil der Chef alles in letzter Sekunde noch ändern kann) und selbst einige Stadien für die Fußball-Weltmeisterschaft im letzten Jahr wurden erst fertig, als die ersten Fans schon im Land waren. Hauptsache, man wird irgendwann fertig. Deadlines sind zweitrangig.
“Und was, wenn wir scheitern?“ „Hoffentlich nicht…“ In solchen Fällen benutzen Russen das kleine altrussische Wörtchen „Awos“, um selbst unter schwierigen Umständen ein kleines bisschen Hoffnung auszudrücken.
Vor Gründung des Zarenreiches wurden die Russen von Fürsten regiert, die sich untereinander nur zu gerne befehdeten. Die Gefahr eines Krieges war allgegenwärtig. Später kamen die Zaren, die regelmäßig Gesetze komplett änderten und sich dabei nicht um Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien scherten. Auch die Pläne des russischen Militärs (beispielsweise Suworows Feldzug in der Schweiz) basierten oft auf dem „Prinzip Hoffnung“. So gewöhnten sich die Russen an, alles mit einem „awos“ im Kopf anzugehen – einem gewissen Vertrauen auf die Hilfe einer übernatürlichen Macht.
Sich vor einer langen Straße hinsetzen, sich weigern, über einer Türschwelle die Hände zu schütteln oder etwas weiterzugeben, nicht unter einer Leiter hindurchgehen, Angst davor haben, Salz zu verschütten; niemals über jemanden zu steigen, der am Boden liegt, oder nicht zurückzugehen, wenn man etwas vergessen hat. All das sind Ausdrücke in Russlands heidnischer Vergangenheit verwurzelten Aberglaubens, der Jahrhunderte christlicher Tradition überlebt hat.
Wenn wir in Moskau mit Freunden aus Sibirien unterwegs sind, ziehen wir sie gerne mit der sprichwörtlichen sibirischen Kälte auf. „Warum trägst du eine Mütze? Du bist aus Sibirien.” Sie antworten dann meist mit “Ja, wir Sibirier wissen halt, dass man sich warm anziehen muss.“
Doch selbst, wenn sie nicht aus dem sibirischen Landesteil kommen, wird ein harter und frostiger Winter kaum überraschend für einen Russen sein. Lew Milow, ein Historiker, der sich vor allem mit der Geschichte der russischen Bauern beschäftigt, sagt, dass das Wetter die russische Mentalität entscheidend geformt hat.
Das Leben der russischen Bauern wurde von den Jahreszeiten geprägt. Die eine Hälfte des Jahres arbeitete man hart, um möglichst viel zu sähen und zu ernten, bevor der Frost kam (eventuell kommt daher auch der Hang, alles im letzten Moment zu erledigen, siehe Punkt 3). Die andere Hälfte des Jahres lag man am heimischen Herd und musste Aktivitäten erfinden, um sich zu beschäftigen. So entstand vielleicht auch unser letztes einigendes Band der russischen Gesellschaft: Der Schwermut, auch bekannt als Chandra.
Wie die Portugiesen mit ihrer „Saudade“ haben auch die Russen ihre eigene Art des Schwermuts: Chandra. Chandra ist fest mit der sogenannten „russischen Seele“ verbunden.
In modernen westlichen Gesellschaften wird „jammern“ tendenziell als unhöflich gesehen. Wer einen Grund zum Weinen hat wird höflich ignoriert und für sich alleine gelassen. In Russland ist genau das Gegenteil der Fall – solch eine Person zu ignorieren würde als ungehobelt oder gar unmenschlich empfunden werden. Einer Person, die sich laut beschwert und um Hilfe ruft, wird in den allermeisten Fällen geholfen, und sei es durch einen Fremden. Auch das ist die russische Seele.
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