Monster im Konservenglas: Wie wurde der Teepilz zum wichtigsten sowjetischen Superfood?

Helder Faria/Getty Images
Ein scheinbar gruseliges Getränk mit einer Art Qualle aus einem Konservenglas eroberte einst die gesamte Sowjetunion. Die Hauptingredienz wurde an Verwandte und Freunde weitergegeben und erhielt sogar einen Namen.

Jeder, der in der Sowjetunion lebte, setzte ihn zu Hause an oder sah ihn zumindest bei Bekannten: ein hässlicher, schleimiger „Körper“, der in einem Drei-Liter-Konservenglas in trübem, braunem Wasser schwamm. Lernen Sie den Teepilz kennen, auch bekannt als Kombucha oder SCOBY (Symbiotic culture of bacteria and yeast, auf Deutsch Symbiotische Kultur aus Bakterien und Hefe) – ein fermentiertes Getränk auf der Basis von süßem Tee, Hefe und Essigsäurebakterien.

Ein schleimiges Haustier  

Das Ansetzen eines Teepilzes ist relativ einfach: Man fügt dem gesüßten Tee Zoogloea – einen schleimigen „Körper“ – zu, der von Bakterien produziert wird. Der Tee, d. h. das im Tee enthaltene Koffein und die gelöste Glukose bilden einen hervorragenden Nährboden für Bakterien und Hefen. Je größer die Kolonie, desto „dicker“ und größer der „Körper“. In dem Gefäß fermentiert der Pilz einige Tage oder eine Woche lang. Während dieser Zeit verwandelt sich der Tee in ein etwas süßes, herbes (und leicht alkoholisches) Getränk.

Anschließend wird der Pilz herausgenommen und das Getränk in Flaschen abgefüllt. Ein einzelner Teepilz kann sehr lange leben, wenn er einmal in der Woche mit neuem Teesud übergossen wird. 

Der einfachste Weg, einen neuen Teepilz zu bekommen, bestand darin, entweder etwas Flüssigkeit in eine andere Flasche zu füllen (und mit der Zeit bildete sich eine neue Zoogloea heraus) oder man schnitt ein Stück einer vorhandenen Pilzes ab und legte es in Tee.

Der Pilz wurde oft an Verwandte und Freunde weitergegeben und war eine Art Haustier, um das man sich kümmern musste: „Dieser Pilz kam von meiner etwas seltsamen Tante zu uns nach Hause, zusammen mit einer Art Notiz. Darin stand, dass wir dem Pilz einen Namen geben sollten. Eine Auswahl möglicher Namen war auch gleich beigefügt. Wir nannten den Pilz Bobbi. Abkömmlinge des Pilzes mussten zusammen mit der Notiz an Bekannte weitergegeben werden“, erinnert sich die Internet-Nutzerin Prostoljudinka.

Pilz-Mythen

Das Getränk hatte in der Sowjetunion den Ruf eines Superfoods – ein Produkt mit einer ganzen Reihe von positiver Eigenschaften. Er verbessere die Verdauung, schaffe Erleichterung bei einem Kater, stärke das Immunsystem, helfe bei Diabetes, Gicht, Neurosen, Rheuma, Hämorrhoiden und habe eine entgiftende Wirkung und probiotische, ja sogar krebshemmende Eigenschaften.

In Wirklichkeit gibt es jedoch praktisch keine nachgewiesene wissenschaftliche Grundlage für diese Behauptungen. Ja, es wurden Studien über Teepilze durchgeführt und optimistische Ergebnisse erzielt, aber man darf nicht vergessen, dass die meisten von ihnen in vitro, d. h. an Zellkulturen, durchgeführt wurden oder dass die Probanden Ratten waren.

So haben diese Studien an Ratten gezeigt, dass der regelmäßige Verzehr von Kombucha die toxische Wirkung von Chemikalien auf die Leber in einigen Fällen um 70 % reduziert. Einige Studien haben auch die antimikrobielle, antioxidative und sogar antikarzinogene Wirkung des Teepilzes bestätigt, allerdings an Zellkulturen. Eine Studie an diabetischen Ratten hat gezeigt, dass der Verzehr von Teepilzen die Verdauung von Kohlenhydraten verlangsamt, was den Blutzuckerspiegel senkt. Was seine krebshemmenden Eigenschaften betrifft, so hat der Teepilz in Laborstudien dazu beigetragen, das Wachstum und die Ausbreitung von Krebszellen zu verhindern, und zwar aufgrund seiner hohen Konzentration an Teepolyphenolen und Antioxidantien, die nach Ansicht der Wissenschaftler Genmutationen und das Wachstum von Krebszellen blockieren.

Aber wie sich all dies im menschlichen Körper verhält und ob sich zumindest die Hälfte der Eigenschaften, die in einer Laborumgebung nachgewiesen worden, auch in der Praxis zeigen, weiß die Wissenschaft noch nicht zu sagen. Aber bekannt ist, wer durch den Teepilz geschädigt werden kann.

Der Pilz, der töten kann?

Im Jahr 1995 erkrankten zwei Frauen aus Iowa schwer, nachdem sie zwei Monate lang täglich Kombucha konsumiert hatten, eine von ihnen starb sogar. Es gibt keine direkten Beweise dafür, dass der Pilz die Todesursache war, aber er könnte eine Schlüsselrolle gespielt haben, so eine Schlussfolgerung des Iowa Department of Public Health (IDPH).

Für den Teepilz gibt es Gegenanzeigen: Menschen mit Nieren- oder Lungenkrankheiten sollten ihn auf keinen Fall zu sich nehmen, da bei ihnen die Gefahr einer Azidose besteht – ein Zustand, bei dem zu viel Säure im Blut vorhanden ist. Der Teepilz steigert diesen Säuregehalt zweifellos. Außerdem kann das Mikrobiom des Getränks bei Menschen mit einem geschwächten Immunsystem Infektionen verursachen. Alexandra Rasarenowa, Mitglied des Russischen Verbands der Ernährungswissenschaftler, sagt: „Ich würde Menschen mit einer Übersäuerung des Magens und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts empfehlen, den Kombucha mit Vorsicht zu trinken, und auch schwangere und stillende Frauen sollten davon absehen.“

Neue Popularität 

Aber Kombucha ist wirklich eine gesunde Alternative zu zuckerhaltigen kohlensäurehaltigen Getränken und Säften. Obwohl der Teepilz mit Zucker gefüttert wird, ist dieser im Endprodukt in vergleichsweise geringer Konzentration enthalten. Ein durchschnittliches Glas des Getränks enthält nur 30 Kalorien und zwischen 2 und 8 Gramm Zucker. Außerdem enthält das Getränk B-Vitamine und, wie jedes fermentierte Produkt, nützliche Milchsäurebakterien.

Der Ruf des Pilzes wurde in Russland jedoch durch die aufblühende freie Marktwirtschaft und das Aufkommen der weltweit beliebten kohlensäurehaltigen Getränke in den Neunzigerjahren erschüttert. Eine Zeit lang war der Teepilz ein sowjetischer Anachronismus. Seine erneute Popularität in Russland wurde durch den weltweiten Kombucha-Boom ausgelöst, der aus dem Westen  kam, wo er als Getränk für diejenigen positioniert wird, die einen gesunden Lebensstil und Wellness-Produkte mögen. Der weltweite Kombucha-Umsatz stieg 2016 auf 930 Millionen Euro. 2022 könnten dieser Wert auf 2,2 Milliarden Euro steigen. Kombucha wird sogar getrocknet, gemahlen und als Kapseln verkauft.

In Russland ist der Teepilz heute nicht mehr so beliebt wie in der UdSSR, aber er gewinnt wieder an Bedeutung. Im russischen Internet gibt es Websites für die heimische Herstellung von Kombucha (den Teepilz  kann man online bestellen) und Clubs von Liebhabern dieses Getränks. Und mehrere Einzelhandelsketten verkaufen Kombucha nicht nur als Getränk, sondern inzwischen auch den Teepilz – in Vakuum-Verpackung für die heimische Herstellung.

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