Aspirin für den Zaren: deutsch-russische Pharmageschichte

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Russlands Arzneiwesen war im Zarenrussland eng verknüpft mit deutschen Namen. Die Oktoberrevolution zerstörte aber nicht nur die Branche, sondern auch Familiengeschichten.

Am Ende musste alles sehr schnell gehen. In Russland wütete gerade die Revolution des Jahres 1917, als die Familie von Wladimir Karlowitsch Ferrein, Moskaus berühmtestem Apotheker, gerade in ihrem Landhaus im Süden der Stadt bei einem Mittagessen zusammensaß. Ein Hinweis muss sie erreicht haben, denn als die Bolschewiken dort ankamen, fanden sie Reste des Essens und ungewaschenes Geschirr. Die Apothekerfamilie konnte sich glücklich schätzen, Russland noch in aller Eile verlassen zu haben.

Dabei hatte die Familie fast 80 erfolgreiche Jahre hinter sich gebracht. Carl Ferrein aus Arnswalde in der Neumark war einst dem Ruf des Geldes nach Russland gefolgt. Bereits seit einem Erlass Peters des Großen am 22. Dezember 1701, der die Gründung von privaten Apotheken erlaubte, war das Apothekenwesen eng mit deutschen Einwanderern verbunden. Die erste Apotheke wurde von dem Alchimisten Johann Gottfried Gregorius eröffnet, die zweite von dem aus Polen stammenden Daniel Gurtschin. Die übrigen sechs gehörten Deutschen und Holländern. Eben die von Gurtschin gegründete Apotheke übernahm Carl Ferrein Anfang der 1830er-Jahre.

Das Apothekenwesen entwickelte sich nur langsam. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in ganz Russland insgesamt nur zwölf private Apotheken. Doch immer mehr Ausländer kamen, die sich für den Beruf interessierten – vornehmlich Holländer und Deutsche, darunter ausgebildete Apotheker und Mediziner ebenso wie Schulabgänger. Ausländische Studenten konnten in Russland auf Staatskosten Apotheker werden.

Moskaus Apotheken-Boom

1828 gab es immerhin schon 423 private Apotheken, 20 Jahre später 689. Dennoch war Mitte des 19. Jahrhunderts in 170 russischen Städten immer noch keine einzige Apotheke zu finden. Derweil entwickelten sich in Moskau und Sankt Petersburg Dynastien deutscher Apotheker und Pharmazeuten. Ihnen gehörten die größten privaten Einrichtungen, in Moskau etwa die Apotheke Staraja Poljanskaja, die ihr Besitzer Karl Sänger seit 1839 offiziell als Moskauer Hofapotheke firmieren durfte.

Die Gesellschaft V.K. Ferrein. Quelle: Pressebild

Den größten Erfolg hatte jedoch Carl Ferrein. Dessen Apotheke wuchs bis 1893 zur größten der Stadt heran. In jenem Jahr verlegte Ferrein junior die Betriebsräume in einen Neubau an der Nikolskaja-Straße, dessen Fassade im Stil der Neorenaissance noch heute Aufmerksamkeit weckt.

Ferreins Enkel gründete 1902 die Gesellschaft V.K. Ferrein, die sich binnen weniger Jahre zu einem der größten pharmazeutischen Unternehmen nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa entwickelte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschäftigte das Unternehmen 1 600 Mitarbeiter, von denen 600 gelernte Spezialisten waren. Das Sortiment bestand aus gut 300 Produkten. Die Gesellschaft war eigentlich ein Konzern mit fünf Apotheken in Moskau, Laboratorien, einer Glasbläserwerkstatt, Kräuterplantagen bei Moskau und auf der Krim sowie einer Chemiefabrik in der Nähe von Jaroslawl. Neben pharmazeutischen Präparaten produzierte sie Seifen und Kosmetik. Berühmt waren auch ihre Getränke-Mixturen wie „Coca auf Portwein“ oder „Cola in Sherry“.

Profit und Schicksal

Die relativ geringe Konkurrenz auf dem russischen Markt zog weitere Investoren an, darunter Na-men, die noch heute in aller Munde sind. 1893 übernahm der Deutsche Henry Theodore Böttinger, Schwiegersohn des Bayer-Gründers Friedrich Bayer, eine Fertigung von Anilin- und Alizarinfarben in Moskau. 1898 gründete er gemeinsam mit Friedrich Bayer junior das Moskauer Handelshaus F. Bayer und H. Böttinger. Das Werk startete mit 160 Mitarbeitern und drei Dampfmaschinen. 14 Jahre später waren es 400 Mitarbeiter. Im Angebot waren da bereits 1 700 Farbstoffe aus lokaler oder deutscher Produktion, außerdem 750 Chemieprodukte und 20 pharmazeutische Präparate, darunter das weltbekannte Aspirin. Im Februar 1912 wurde das Unternehmen in die Aktiengesellschaft der Chemischen Fabrik Friedr. Bayer & Co, eine Tochter der 1881 in Leverkusen eingetragenen Aktiengesellschaft Farbenfabriken Friedr. Bayer & Co., umgewandelt. Zu den Moskauer Gründern gehörten Bayer junior, Böttinger und der langjährige Bayer-Chef Carl Duisberg.

Wladimir Karlowitsch Ferrein machte die Gesellschaft V.K. Ferrein zu einem der größten pharmazeutischen Unternehmen in Europa. Quelle: Pressebild

Doch das Schicksalsjahr 1914 brachte die Wende für alle deutschen Unternehmer im Russischen Reich. Die nicht-russischen Gründer mussten das Unternehmen verlassen; derweil produzierten die Bayer-Fabriken in Russland Farbstoffe für Tarnuniformen und ab 1915 Sprengstoff für die Armee. Nach der Oktoberrevolution wurde das Unternehmen ein Teil des staatlichen Anilin-Trusts.

Die Ferrein-Familie konnte die Kriegswirren in Russland noch überstehen und fertigte dringend benötigte Medikamente. Doch das Glück währte nicht lang. Während der antideutschen Pogrome 1915 drang ein Mob in die Apotheke ein und betrank sich mit dem Alkohol im Keller. Danach randalierte er Wohnungen und Geschäfte von Deutschen. Die Oktoberrevolution schließlich trieb die Apotheker-Dynastie aus dem Land.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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