Am Rande der Legalität: Russlands Garagen-Wirtschaft

Früher galten sie als Eldorado der Schattenwirtschaft: die Garagen-Siedlungen Russlands. Heute bieten sie vielen Menschen Bleibe und Arbeit und bringen dem Staat wichtige Steuereinnahmen. Wirklich legal sind sie aber nicht, und so leben die Menschen vielerorts in Unsicherheit – wie das Beispiel Moskaus zeigt.

Eine Garagen-Kooperative unweit der Lomonossow-Universität in Moskau. Foto: Nikolaj Litowkin

„Wir hatten hier eine Heizung, Internet und Kabelfernsehen. In unseren Garagen konnte man eigentlich ganz gut leben“, sagt ein ehemaliger Einwohner des Moskauer Schanghais, einer halblegalen Siedlung mitten in der russischen Hauptstadt, unweit der Lomonossow-Universität. Jetzt müsse man umziehen und wisse nicht, wohin. Etwas Vergleichbares müsse her.

Seit Mitte der 1990er-Jahre entstand im Moskauer Schanghai eine Garagen-Kooperative – schrittweise wuchs die Anlage auf eine Größe von 50 Hektar. Bald schon wurden die Garagen zweckentfremdet und verwandelten sich in Werkstätten, kleine Läden und Imbissshops – eine Art Sonderwirtschaftszone, mitten in der Großstadt, in der vieles ohne die erforderlichen Genehmigungen und Papiere vonstattenging. Vorrangig illegale Migranten aus den Ex-Sowjetrepubliken wohnten und arbeiteten hier. Bis zu zehn Menschen konnten in einer Garage auf 18 Quadratmetern gleichzeitig leben und arbeiten.

Bis Anfang dieses Jahres existierte das Moskauer Schanghai in dieser Form. Inzwischen ist ein Großteil der Garagen dem Erdboden gleichgemacht worden. Nach dem Beschluss, das Gebiet für den zukünftigen Campus der Lomonossow-Universität freizugeben, ordnete die Verwaltung der Stadt den Abriss an.

Nachklang der Wende

Die Garagen-Unternehmer – im Russischen „Garaschniki“ genannt – sind größtenteils Kinder der Perestroika. Ihre Blütezeit erlebten sie in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als die meisten der damals Werktätigen plötzlich ohne Arbeit und Lohn dastanden. „Zu dieser Zeit wurden Fahrzeugteile eben nicht mehr in den Autowerken, sondern in den Garagen nebenan in Handarbeit gefertigt“, sagt Alexander Pawlow von der Chamowniki-Stiftung für Sozialforschung. „Möbel wurden in der Nähe geschlossener Fabriken weiterproduziert. Die Schneider aus den ehemals staatlichen Schneidereien nähten ebenfalls in den Garagen weiter.“ Seit mehreren Jahren erforscht der Experte das gesellschaftliche Phänomen der Garagen-Handwerker. Das Profil der Garaschniki habe sich im Laufe der Jahre erweitert, sagt er. Möglich sei dies durch die Reform des Eigentumsrechts geworden: Die Garagen gingen aus dem Staats- in Privateigentum über.

Eine Möbelfabrik in Uljanowsk profitiert von ihrer Lage. Foto: Wiktoria Tschernyschowa

Auch Alexander Sinerkin aus Uljanowsk, einer Großstadt rund 880 Kilometer östlich von Moskau, hat davon profitiert. Der ehemalige Salesmanager hat sich mit einer Tischlerei selbstständig gemacht. Inzwischen ist er einer der russischen Marktführer im Billigsegment. Fort heißt seine Möbelfabrik: vier miteinander verbundene Garagen mit einer weiteren Box auf dem Dach. Bis zur Krise habe die Fabrik monatlich rund 90 000 Euro eingefahren. Heute, nach der Abwertung des Rubels, sei es rund die Hälfte. Dennoch laufe die Tischherstellung bei Fort auf vollen Touren – drei Schichten, jeden Tag, ohne Unterbrechung.

In Uljanowsk machen die eigentlich illegalen Garagen-Unternehmen rund 80 Prozent der gesamten Möbelproduktion in der Region aus. Ihr Umsatz liegt bei rund 37,5 Millionen Euro im Jahr. In der Schattenwirtschaft habe Alexander Sinerkin jedoch nicht bleiben wollen. Als er ein bestimmtes Umsatzvolumen erreicht hatte, begann er, sein Unternehmen zu legalisieren. Inzwischen zahlt er Steuern und weiß die Regionalverwaltung hinter sich: „Wir haben Subventionen erhalten, um Ausrüstung zu leasen, und wir können vergünstigte Kredite bekommen“, sagt der Unternehmer. Die regionale Führung verstehe, dass die Garaschniki dem Fiskus wirklich Geld einbringen. Schließe man die Firmen, gebe es einen Aufstand, ist Sinerkin überzeugt: „Für uns ist das die einzige Möglichkeit, unsere Familien zu ernähren.“

Häuser auf Rädern

Rund 54 Prozent der Garagen in Sotschi wurden zu Wohnhäusern illegal umgebaut. Foto: Olga Bondarenko

In Sotschi werden Garagen genutzt, um Eigenheime daraus zu machen. Grund und Boden sind in der Region Krasnodar teuer. Viele erwerben daher Gewerbegrundstücke – wozu eben auch die Grundstücke für Garagen zählen – und bauen auf diesen zusätzliche Etagen an. 

„Wir haben drei Kinder, sie alle leben bei uns. Unser Sohn wollte heiraten und mit seiner Ehefrau weiterhin bei uns wohnen. Also haben wir uns entschlossen, die Wohnfläche zu erweitern und eine weitere Etage anzubauen“, erzählt Sergej Semenow. Seit mehr als sieben Jahren wohnt er mit seiner Frau Julia in dem vierstöckigen Haus in der Olympiastadt. „Von hier ist es nicht weit bis zum Meer. Und unsere ganze Großfamilie hat hier Platz“, sagt er. Um die Garage in eine „Villa“ zu verwandeln, hätten die Eheleute zwei Stadtwohnungen verkauft.

Rund 54 Prozent der Garagen in der Region Krasnodar wurden zu Wohnhäusern umgebaut – häufig, um sie in der Urlaubssaison als Ferienwohnungen zu vermieten. Monatlich kann das mehr als 240 Euro einbringen. Der rechtliche Status dieser Immobilien stellt jedoch ein Problem dar. Als Wohnhäuser werden sie nicht anerkannt – auch in Zukunft nicht. Die Straße, in der Familie Semenow wohnt, ist aber von solchen Garagen-Hybriden übersät. Also hat sich die Stadtverwaltung auf eine Duldung eingelassen. Nun ist die Siedlung auch an die Kanalisation und die Gasversorgung angeschlossen. Fließend Wasser und Strom gab es dort ohnehin schon.

Kommunalka: WG auf sowjetische Art

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