Eine jüngste Studie (eng) der Wirtschafts- und Steuerberatungsgesellschaft Grant Thornton vom März dieses Jahres kommt zu dem Ergebnis, dass Russland zu den weltweit führenden Ländern bezüglich der Geschlechterverteilung in leitenden Positionen gehört. Eine große Anzahl russischer Unternehmen – 91 Prozent – kann zumindest auf eine Frau im Top-Management verweisen. Das ist mehr als in Großbritannien mit 75 Prozent, Frankreich mit 79 Prozent und den USA mit 81 Prozent.
Im letzten Jahr zeigte (eng) die gleiche Studie, dass Russland mit 47 Prozent den größten proportionalen Anteil von Frauen in Führungspositionen hat, gefolgt von Indonesien mit 46 Prozent und Estland mit 40 Prozent.
“In Russland gibt es zudem viele weibliche Unternehmerinnen”, erklärt Dmitrij Kibkalo, Gründer von Mosigra, einer internationalen Kette von Läden für Brettspiele. “Ich denke, Frauen und Männer kommen sowohl privat als auch geschäftlich gut miteinander zurecht. In der Schule und später an der Fakultät für Mathematik und Mechanik an der Moskauer Staatlichen Universität, an der ich studiert habe, hatten wir Mit-Studentinnen, die uns männlichen Studenten weit überlegen waren. Und im Geschäftsleben gibt es natürlich auch solche überragenden Frauen.“
In seinem Unternehmen seien zwei von vier Abteilungsleiterpositionen von Frauen besetzt und diese würden, so sagt er, diese Funktionen aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer Managementfähigkeiten einnehmen.
“Frauen“- versus „Männerberufe”
Anna Tsfasman, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, Gründern und Generaldirektorin von Double B, einer internationalen Kaffeehauskette, bestätigt, dass es viele Frauen in hohen Führungspositionen gibt. Das Verhältnis liege bei 50:50, jedoch hänge auch viel von der konkreten Sparte ab. Es gebe Bereiche, die von Männern dominiert würden, wie etwa Ingenieurberufe und Schwerindustrie, sagt sie gegenüber Russia Beyond.
>>>Double B: Wie eine russische Kaffeehauskette die Welt erobert
Historisch gesehen, gab es viele traditionelle “Männer-“ beziehungsweise “Frauenberufe” und das hat seine Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein. Laut Informationen der Personalberatungsgesellschaft Hays (rus) überwiegt in Sektoren wie Bauwesen, IT, Energiewirtschaft, Schwerindustrie, Ingenieurwesen, Verteidigung, Metallindustrie, Chirurgie, Fischfang und Bergbau der Anteil der Männer. Typisch „weibliche“ Sektoren hingegen sind Personalwesen, Statistik, Buchhaltung, Bildung, Verkauf, Kommunikation, Kunst, Psychologie und Medien.
Historischer Hintergrund
Laut Maxim Artjomow (rus), Historiker und Journalist bei Forbes Russland, können derartige Geschlechterunterschiede im Top-Management mit historischen, sozialen und demografischen Gründen sowie mit der Tradition erklärt werden.
In der Sowjetzeit haben Frauen oft in Bereichen gearbeitet, die als weniger prestigeträchtig galten. So fanden sie beispielsweise meist Beschäftigung im Finanzwesen, in der Rechtsprechung, im Gesundheitswesen oder in der Bildung. Infolgedessen waren Arzt, Richter oder Lehrer traditionell weibliche Berufe. Diese Situation änderte sich nach der Perestroika, als Berufe wie Wirtschaftsprüfer oder Betriebswirtschaftler für viele Frauen die Möglichkeit eröffneten, in Unternehmen Spitzenpositionen einzunehmen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 waren es oft Frauen, die sich schnell an die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anpassten. “Sie verkauften Waren auf Märkten und eröffneten kleine Geschäfte”, erläutert Artjomow.
Es gibt auch das Stereotype, dass Frauen dazu neigen, loyaler und weniger anfällig gegen Korruption zu sein, so dass männliche Vorstandsvorsitzende sie gerne als stellvertretende Direktorinnen einstellen. In offiziellen staatlichen Funktionen sind die Frauen gut vertreten. Jüngste Statistiken des Staatlichen Russischen Statistischen Dienstes besagen (rus), dass im Jahre 2011 ganze 70 Prozent der Staatsangestellten Frauen waren. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich diese Situation seither wesentlich verändert hat.
Dennoch erreichen laut Hays (rus) nicht alle Frauen die höchsten Funktionen. In diesen sind die Frauen nur zu 18 Prozent vertreten. Obwohl das nicht ideal sei, sei es dennoch höher als im weltweiten Vergleich, der bei 14 Prozent liegt.
Studien der russischen Personalberatung Agentstwo Kontakt (rus), kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Nur 23 Prozent der Vorstandsvorsitzenden sind Frauen, 77 Prozent hingegen Männer. Das führt uns zu einem anderen Fakt: Während es viele Frauen in hohen Positionen gibt, schaffen sie es nur selten nach ganz oben, sondern verharren im mittleren Management.
Hindernisse auf der Karriereleiter
Die Umfrage von Hays unter russischen Managern zeigte (rus), dass die größten Hindernisse für weibliche Karrieren solche Vorurteile sind, wie “Männerberuf” (59 Prozent), Elternzeit (57 Prozent) und die Schwierigkeit, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen (52 Prozent). Zusätzlich gaben 65 Prozent der Frauen an, dass ihr Gehalt unter dem der männlichen Kollegen liegt.
Diversität in der Verteilung von Top Management-Positionen ist in Russland kein so gängiges Problem wie im Westen, meint Anna Tsfasman. “Russische Frauen sind traditionell starke Charaktere und akzeptieren in bestimmten Bereichen, dass sie Positionen im Mittelmanagement einnehmen. Deshalb kann man nicht sagen, dass wir eine bestimmte Skepsis überwinden müssen oder eine Frau eine bestimmte Position nur deshalb nicht einnehmen darf, weil sie eine Frau ist“, argumentiert sie. “Solche Probleme tauchen in Russland wesentlich seltener auf, als im Westen. Hier ist es durchaus normal für eine Frau, eine Familie zu haben und gleichzeitig einen Betrieb zu leiten.“