Aufholen und überholen: Deutschlands Rolle bei der Industrialisierung der UdSSR in den 1930er Jahren

Russia Beyond (Photo: Vladislav Mikosha/MAMM/MDF)
In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren verfolgte die Führung des Landes eine Politik der forcierten Industrialisierung. Sie beinhaltete die Entwicklung der Industrie, um das Land verteidigungsfähig und unabhängig von Importen zu machen. Ironischerweise bemühte sich Moskau zu diesem Zweck aktiv um die Hilfe der westlichen Länder – zum Beispiel Deutschlands. Deutsche Spezialisten kamen in die UdSSR, gaben ihre Erfahrungen weiter, bauten Städte und arbeiteten in Fabriken.

„...Lenin sagte am Vorabend der Oktoberrevolution: Entweder Tod oder die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einholen und überholen. Wir sind 50 bis 100 Jahre hinter den entwickelten Ländern zurück. Wir müssen diese Strecke in zehn Jahren zurücklegen. Entweder wir tun es, oder wir werden weggefegt“, sagte Josef Stalin auf der Ersten Allunionskonferenz der sozialistischen Industriearbeiter im Jahr 1931.

Deutsche Kredite

Die Sowjetunion begann ihre Industrialisierung in einer schwierigen finanziellen Situation. Zu Beginn ihrer Regierungszeit war die Staatskasse der sowjetischen Führung stark dezimiert: Ein Teil ging im Bürgerkrieg verloren, ein Teil wurde für den Abschluss des Separatfriedens von Brest-Litowsk mit Deutschland am 3. März 1918 verwendet, ein Teil für die Bezahlung von Importen.

Mitglieder der zweiten sowjetischen Delegation in Brest-Litowsk unter Leitung von Lew Trotzki (stehend, zweiter  von rechts).

Stalin rechnete damit, dass die Industrialisierung mit den einheimischen Ressourcen des Landes gesichert werden würde: Man ging davon aus, dass der Verkauf von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten ins Ausland der UdSSR die notwendigen Mittel für die Entwicklung ihrer Industrie verschaffen würde. Im Jahr 1929 brach jedoch die Weltwirtschaftskrise, die so genannte Große Depression, aus, und der Wert der von den Sowjets ins Ausland gelieferten Waren sank dramatisch.

Die Erwartungen Moskaus erfüllten sich nicht, und die Union war gezwungen, sich an andere Länder zu wenden, um Mittel zu erhalten. Deutschland war der Hauptgläubiger: 1925 stellte Berlin Moskau die ersten 100 Millionen Mark zur Verfügung, und im Jahr darauf wurde der Betrag verdreifacht. Innerhalb von neun Jahren beliefen sich die offiziellen Schulden auf 900 Millionen Mark.

Warenaustausch zwischen deutschen und sowjetischen Soldaten im Februar 1918.

Ausländische Spezialisten

„...Ich bin von Beruf Schlosser, 32 Jahre alt, verheiratet, habe ein Kind und gute Referenzen für mein Verhalten. Aufgrund der schwierigen Situation der Arbeiter in Sachsen möchte ich nach Russland auswandern, weil ich der kommunistischen Partei angehöre. <...> K. Matuszak, Leipzig, 1923" – mit dieser Erklärung wand sich einer der vielen Deutschen, die ihr Glück in der UdSSR versuchen wollten, an die sowjetische Handelskammer. Bis zu Beginn der 1930er Jahre gab es immer mehr solcher Anträge.

Unter denjenigen, die in die Sowjetunion auswandern wollten, waren Menschen aus allen Schichten – sowohl hochqualifizierte Spezialisten als auch Arbeiter, wie die russische Historikerin Vera Pawlowa feststellt. Einige wurden von politischen Ansichten und dem Wunsch getrieben, den Kommunismus aufzubauen und manchmal auch, um im Ausland politisches Asyl zu suchen, andere von der wirtschaftlichen Situation: Die große Depression, die Europa zu dieser Zeit erfasste, ging mit Arbeitslosigkeit einher. Die sowjetischen Unternehmen ihrerseits stellten ebenfalls Anträge: Der Union, die die Umwälzungen der Revolutionszeit und des Bürgerkriegs (1918-1923) überstanden hatte, fehlte es an qualifizierten Arbeitskräften.

Schwierigkeiten bei der Übersetzung

Es gab in der Tat Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Fachleuten oder Inspezy (von inostrannyje spezialisty, wie sie in sowjetischer Manier abgekürzt wurden). Gelegentlich wurden sie missbraucht, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie nicht verstanden. Die Ausländer beklagten sich über schlechte Arbeitsbedingungen, minderwertige Werkzeuge und mangelnde Aufmerksamkeit für ihre Initiativen und Vorschläge. Die Arbeitsbedingungen in den sowjetischen Fabriken waren nicht mit denen in Europa vergleichbar, und die Sprachbarriere und manchmal auch die Trennung von Angehörigen wirkten sich auf die Stimmung der Neuankömmlinge aus. Die Einheimischen ihrerseits beklagten, dass die neuen Kollegen schlecht arbeiten und unzulässige Privilegien genießen würden: „Die Deutschen werden nicht arbeiten, sondern die Russen ausrauben, denn sie bekommen 10 Rubel in Gold“, „...früher haben sie sich über die Russen lustig gemacht und sie Schweine genannt, und jetzt sind sie zu uns gekommen", zitiert Vera Pawlowa die Klagen der sowjetischen Arbeiter.

Arbeiter der Fabrik „Rotes Dreieck“ in Leningrad hören einen Vortrag über die Industrialisierung des Landes.

Das Bild des ausländischen Spezialisten, der aus dem Ausland entsandt wird, um seine Erfahrungen mit den einheimischen Kollegen zu teilen, fand sogar Eingang in die sowjetische Literatur. Die Satiriker Ilja Ilf und Jewgenij Petrow beschrieben in ihrem Schelmen-Roman Das goldene Kalb den deutschen Ingenieur Heinrich Maria Sause, der in die UdSSR kam, um für den sowjetischen Provinzkonzern Herkules zu arbeiten – und sich voller Unverständnis mit der dortigen Mentalität und dem Lebensrhythmus konfrontiert sah. „Meine Liebe! Ich lebe ein seltsames und außergewöhnliches Leben. Ich tue genau genommen nichts, aber ich bekomme mein Geld pünktlich und zu den vertraglich vereinbarten Bedingungen“, schrieb Herr Sause seiner entfremdeten Verlobten mit Verwunderung.

Die Szene aus dem Film „Das goldene Kalb“ zeigt den deutschen Ingenieur Heinrich Maria Sause.

„Warum haben sie ums deutsche Arbeiter geschickt? Sie haben viel Geld für sie ausgegeben, ihnen mehr Privilegien gegeben, aber es hat nichts genützt. Auf den Versammlungen wurde gesagt, dass die Produktivität mit der Ankunft der deutschen Arbeiter steigen würde, aber es stellt sich heraus, dass die deutschen Arbeiter mit ihrer Langsamkeit bei der Arbeit und ihrer schlechten Qualität nur die Umsetzung des Industrialisierungs- und Finanzplans verzögern werden“, beschwerten sich die Arbeiter des Werks Nr. 50 M. W. Frunse. Nach und nach wurden die Deutschen jedoch in die Arbeitsprozesse einbezogen und begannen hier und da sogar, ihre Kollegen an Produktivität zu übertreffen.

Technik und Bauwirtschaft

Die Notwendigkeit, ausländische Arbeitskräfte zu einzustellen, ergab sich auch aus der Tatsache, dass die UdSSR Ausrüstung aus dem Ausland importierte. Es wurden also Leute gebraucht, die die Gerätetechnik bedienen und ihren Kollegen vor Ort schulen konnten. Oft waren die Lieferungen Teil eines größeren Projekts – des Baus einer ganzen Anlage. Ausländische Firmen entwarfen das Projekt, wählten die Maschinen aus, übergaben Patente und Knowhow der sowjetischen Seite, und die UdSSR übernahm die Kosten und die damit verbundene Vergütung.

Deutsche Arbeiter der Grube „Stalin“ beim Mittagessen in der Kantine. Ukrainische SSR. 1920er Jahre

Nach den Berechnungen des Historikers Boris Schpotow waren von den 170 Verträgen über technische Hilfe, die die Sowjetunion zwischen 1923 und 1933 abschloss, 73 (d.h. 43 %) mit deutschen Unternehmen unterzeichnet worden; 1932 entfielen 47 % der Einfuhren der Sowjetunion auf Deutschland. Einer der wichtigsten Partner der UdSSR war die Firma Siemens, die seit dem Zarenregime in Russland tätig war. In der Zeit der Industrialisierung war der Konzern an einer Reihe von Großprojekten beteiligt: Er half beim Bau eines Kraftwerks am Fluss Kura in Transkaukasien, plante und bereitete den Standort für das Wasserkraftwerk Dnepropetrowsk vor und lieferte Turbinen für das Kraftwerk im Bezirk Kaschira.

Bau des Hauptgebäudes des Kaschirskaja-Kraftwerk

Sozialistische Städte

Die Bautätigkeit beschränkte sich nicht nur auf Industrieprojekte: Ein wichtiger Teil der sowjetischen Industrialisierung war die Schaffung der so genannten sozialistischen Städte – eine besondere Art von Siedlungen auf dem Territorium großer Fabriken, in denen die Fabrikarbeiter wohnen konnten. Zu diesem Zweck kamen westliche Architekten in die Sowjetunion. Einer von ihnen war Ernst May aus Deutschland, der durch seine Arbeit in Frankfurt am Main bekannt wurde.

Der deutsche Architekt Ernst May.

Im Jahr 1930 kam er mit seinem Team, das sich aus Spezialisten verschiedener Fachrichtungen zusammensetzte, in die UdSSR. In kurzer Zeit durchdachte Mays „Brigade“ die Entwicklung von Wohngebieten und Stadtteilen in zwanzig Städten, darunter Magnitogorsk, Nischnij Tagil, Gorkij (Nischnij Nowgorod) und Stalingrad (Wolgograd). „Wir haben das Gebiet zwischen Nowosibirsk und Kusnezk, das riesige Kohlebecken Sibiriens, ausgearbeitet. Detailliert haben wir direkt vor Ort sechs Städte entworfen, von denen die meisten in diesem Jahr gebaut werden“, schrieb ein Mitarbeiter im Mai 1931.

Das Ergebnis dieser Arbeit war jedoch unglücklich: Schon von Anfang an sahen die Entwürfe recht geringe Ausgaben vor, aber die sowjetischen Behörden, die beim Bau sparen wollten, kürzten das Budget immer mehr. Die Menschen waren gezwungen, auf engstem Raum in Substandard-Unterkünften zu leben, die nur wenige Annehmlichkeiten boten. Trotz Mays anfänglicher Loyalität gegenüber den sowjetischen Behörden verschlechterten sich die Beziehungen, und der in der UdSSR kritisierte Architekt beschloss nach nur drei Jahren, die Union zu verlassen.

Lenin-Platz in Stalingrad, 1937.

Die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Deutschen erschwerte sich, als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sowjets bereits den ersten Fünfjahresplan (1928—1932), die fünfjährige erste Phase der Industrialisierung, abgeschlossen. Das Land machte einen gewaltigen Sprung in der Industrie – laut Stalin wurde der Plan für die Schwerindustrie zu 108 % erfüllt. Die Industrialisierung trug ihre Früchte: Die Abhängigkeit von den westlichen Ländern hatte tatsächlich abgenommen. Die Verschlechterung der Beziehungen konnte den Prozess also nicht aufhalten. Der zweite Fünfjahresplan (1933—1937) war jedoch weniger erfolgreich, und der dritte (1938—1942) wurde durch den Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges unterbrochen, der jeder Zusammenarbeit mit Deutschland ein Ende setzte.

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