Wie lebt das „sowjetische Silicon Valley im sibirischen Wald“ heute?

Wirtschaft
ANNA SOROKINA
Damit sich die besten sowjetischen Physiker, Mathematiker und Biologen ungestört ausschließlich der Wissenschaft widmen konnten, wurde in den 1950er Jahren eine ganze Stadt für sie im sibirischen Wald gebaut. Dort wird auch heute noch wissenschaftlich gearbeitet.

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch einen Winterwald irgendwo tief in Sibirien und treffen nicht auf Bären und Luchse, sondern nur auf Wissenschaftler und bestenfalls auf Studenten. Sie eilen durch das Dickicht, um in Dutzenden von wissenschaftlichen Instituten zu arbeiten und zu studieren. Einen solchen Wald gibt es nur 20 km von der Millionenstadt Nowosibirsk entfernt (sogar eine Folge einer sowjetischen TV-Sprachlernserie für Ausländer berichtet darüber).

Wissenschaftliches Leben im Wald

„Mein Vater kam 1961 nach dem Tomsker Polytechnikum an das Institut für Automatisierung und Elektrometrie, meine Mutter kam ein Jahr früher, um nach der Leningrader Universität Schulliteratur zu unterrichten“, erzählt Anastasia Blisnjuk, die in Akademgorodok geboren wurde und aufgewachsen ist, hier als Psychologin gearbeitet hat und heute als Reiseleiterin tätig ist. „Damals war es eine Art sozialer Aufstieg für junge Wissenschaftler, hier konnte man in die Wissenschaft einsteigen und sich ganz auf seine Fähigkeiten verlassen.“

Akademgorodok wurde 1957 inmitten des Waldes als wissenschaftliches Zentrum für die sibirische Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften mit Schwerpunkt auf  physikalisch-technischer und naturwissenschaftlicher Forschung errichtet. Die renommierten Mathematiker Michail Lawrentjew, Sergej Sobolew und Sergej Christianowitsch wandten sich mit dieser Idee an die damalige Führung des Landes. Im Laufe der Zeit entstanden ähnliche Wissenschafts-Cluster – Unterabteilungen der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften: in Tomsk, Krasnojarsk und Irkutsk. Aber Akademgorodok war das größte und renommierteste in der UdSSR.

Vielversprechende Wissenschaftler und einfache Arbeiter begannen aus dem ganzen Land ins ferne und kalte Sibirien zu kommen. Dort herrschte eine besondere Lebensatmosphäre, die niemand mehr missen wollte. „Wir haben Beispiele von einfachen Bauarbeitern und Bauhelfern, die hier ein Studium begonnen haben, in die Wissenschaft eingetaucht sind und selbst promoviert haben“, berichtet Anastasia.

Ein Spaziergang in die Zukunft

„Die klügste Straße der Welt“ wird die Lawrentjew-Allee von den Einheimischen oft genannt. Entlang der zweieinhalb Kilometer langen Strecke befinden sich über 20 Forschungsinstitute und Labors.

Das Herzstück von Akademgorodok ist das Institut für Kernphysik, in dem die ersten Hadronen-Beschleuniger für die Elementarteilchenforschung aufgebaut wurden. Heute wird hier an einem neuen Speicherring namens SKIF (Sibírskij kolzewój istótschnik fotónow, dt.: Sibirische Ring-Photonenquelle) gearbeitet. Ziel ist es, neue Erkenntnisse über die Struktur des Universums zu gewinnen.

Und am Institut für Archäologie und Ethnographie werden der Ursprung des Menschen und die Ethnogenese der Völker untersucht. Mitarbeiter des Instituts haben bei archäologischen Ausgrabungen die älteste altaische Prinzessin auf dem Ukok-Plateau gefunden (wir berichteten darüber in unserem Artikel) und entschlüsselten DNA-Reste in der Denissowa-Höhle im Altai. Es stellte sich heraus, dass dort eine bis dahin unbekannte Menschenart lebte.

Wissenschaftler des Instituts für Anorganische Chemie arbeiten an neuen Materialien – wie sie erklärten, damit „Plastikflaschen zu Speicher-Sticks gemacht werden können“.

Das Institut für Zytologie und Genetik hat Hausfüchse gezüchtet. In freier Wildbahn dauert der Domestizierungsprozess Tausende von Jahren, aber die sibirischen Wissenschaftler benötigten dafür nur 60 Jahre. In der Station für junge Naturforscher kann man den „Wissenschafts-Füchsen“ begegnen.

„Gänse“ und „Küken“ in Akademgorodok

Eine der wichtigsten Ideen des Akademikers Michail Lawrentjew war die Verbindung von Bildung, Wissenschaft und Produktion. Und hier gibt es einen Ort, an dem Wissenschaftler ihre eigenen Unternehmen gründen können – den 2010 eröffneten Akadempark. Es ist der größte Technopark unseres Landes mit mehr als 330 Bewohnern, deren Unternehmen 9.000 Menschen beschäftigen. Ihre Haupttätigkeitsbereiche sind IT, Biotechnologie und Biomedizin sowie Hightech-Engineering.

Zu den großen Biotech-Unternehmen, die hier tätig sind, gehören die Erfinder des ersten russischen Coronavirus-Testsystems. Nebenan befindet sich das Technologie-Support-Zentrum für Fertigungsunternehmen. Und die IT-Spezialisten sind in zwei Türmen untergebracht, die wegen ihrer charakteristischen Form liebevoll „Gänse“ genannt werden.

Ein Drittel der Einwohner sind in Start-ups tätig, Es wurden Gründerzentren eingerichtet, die nur für Start-up-Unternehmen gedacht sind – wie Brutkästen für Küken.

Jewgenij Demidow war 15 Jahre lang in der Proteinforschung am Institut für Zytologie und Genetik tätig. Vor ein paar Jahren beschloss er, die Grundlagenforschung zu verlassen und mit der Produktion von Proteinen aus gewöhnlichen Heuschrecken zu beginnen. Die Gewinnung von essbarem Eiweiß aus Insekten ist inzwischen ein weltweiter Trend.

„Jeder fragt, wie Grillen schmecken“, sagt der Biologe. „Sie sind nahezu völlig geschmacklos. Wenn man reines Mehl daraus probiert, kann man ein leichtes Aroma gerösteter Sonnenblumenkerne spüren, aber eigentlich ist es reines Eiweiß ohne viel Geschmack.“

„Insekten haben eine viel höhere Produktivität als jede Viehzucht, sie haben eine erstaunliche Anbaudichte, viel höher als bei jeder Viehzucht, und es ist eine ziemlich kompakte Produktion“, erläutert Jewgenij. „Unsere ,Farm‘ ist nur 100 Quadratmeter groß.“

Im Jahr 2021 bewarb er sich mit einer einzigen Idee beim Akadempark und erhielt den Residenten-Status. Zur gleichen Zeit wurde der erste Investor gefunden, der eine halbe Million Rubel beisteuerte. Und die Dinge kamen ins Rollen. Bisher stellt Jewgenij Kekse aus „Grillenmehl“ als Probe vor, aber er plant, daraus so etwas wie Proteine für Sportler herzustellen. Solche Produkte könnten seiner Meinung nach innerhalb eines Jahres auf den Markt kommen.

Akademgorodok 2.0

Heute leben über 20.000 Menschen im historischen Teil von Akademgorodok, aber wenn man das gesamte sowjetische Gebiet von Nowosibirsk betrachtet, zu dem auch die Stadt der Wissenschaftler gehört, ist die Zahl sechsmal höher. Wegen der hohen Wohnungspreise lassen sich junge Familien oft in benachbarten Stadtteilen nieder.

Im Jahr 2018 erschien auf Regierungsebene ein Plan für die Weiterentwicklung von Akademgorodok. In den kommenden Jahren soll in der Nachbarschaft Akademgorodok 2.0 gebaut werden, das zur neuen Wissenschaftshauptstadt Russlands werden soll. Das zentrale Projekt wird SKIF sein.