Stellen Sie sich vor, dass die Konflikte zwischen Moskau und Washington so sehr eskalieren würden, dass beide Seiten Atomwaffen gegeneinander einsetzen. Wichtige Städte würden durch ein Feuermeer vernichtet werden, selbst Stahlbeton schmilzt aufgrund der hohen Temperaturen. Die Explosionen sind so groß, dass sie Feuerstürme auslösen, die nicht nur jedes Leben auslöschen würden, sondern auch große Mengen an Asche in die Atmosphäre gelangen ließen. Und dort beginnt das eigentliche Problem.
Tödliche Abkühlung
Asche und Staub steigen in die Stratosphäre auf, wo sie dichte Wolken bilden. Es gelangt kaum noch Sonne auf die Erde. „Wenn sich die Aschewolken formiert haben, erreichen keine Sonnenstrahlen mehr die Erde. Dies führt zu einer abrupten Abkühlung.” schrieb der sowjetische Mathematiker Nikita Moisejew, der in den 80ern ein mathematisches Modell für die ökologischen Konsequenzen eines Atomkrieges schuf.
„Unseren Berechnungen zufolge würde die Durchschnittstemperatur auf der Erde nach einem Atomkrieg um 15 bis 20, vielleicht sogar 25, Grad Celsius sinken. Auch in den darauffolgenden Monaten würde es immer kälter.” fügte Moisejew hinzu.
Das von ihm und seinen Kollegen entwickelte Modell nahm an, dass ein Atomkrieg die gesamte nördliche Hemisphäre, also die USA, Europa und die Sowjetunion komplett zerstören würde. Die eingesetzten Bomben würden insgesamt die gleiche Sprengkraft haben wie fünf bis sieben Milliarden Tonnen TNT.
In einem solchen Szenario kann auch für den Rest des Planeten nichts Positives erwartet werden. Monatelang gäbe es eine “nukleare Dämmerung”. Auf der ganzen Welt würde es nicht mehr hell werden. So würde auch ein “nuklearer Winter” entstehen, die Böden frieren bis in einige Meter komplett ein, versperren den Überlebenden so den Zugang zu Wasser und machen den Anbau von Nahrung unmöglich. Dazu kämen noch die riesige Aschewolke, die die Welt umhüllen würde, die riesige radioaktive Strahlung und aufgrund der Klimaveränderungen entstehende Taifune. Die Auslöschung sämtlichen Lebens wäre unausweichlich. “Niemand würde einen “postnuklearen Frühling” erleben” behauptete Moisejew.
Wissenschaftler gegen den Krieg
Moisejews Worte stammen aus dem im Jahr 1987 geschriebenen Buch „Entwicklungsalgorythmen“. Schon 1983 entwickelten zwei Gruppen Wissenschaftler – Amerikaner und Sowjets – unabhängig voneinander die Theorie vom „nuklearen Winter“.
In den USA veröffentlichte der berühmte Astrophysiker Dr. Carl Sagan im Oktober 1983 einen Artikel zu dem Thema in Parade, einem zehn Millionen Auflage zählenden Magazin. Er zeigte die schrecklichen Konsequenzen eines Atomkrieges auf und schrieb, „wir haben unsere Zivilisation und unsere gesamte Spezies in Gefahr gebracht.“
Auf der anderen Seite veröffentlichte der sowjetische Atmosphärenwissenschaftler Georgi Golizyn im Mai 1983 seine Studien zum Abkühlen der Erde nach einem Atomkrieg. Golizyn und Sagan kannten sich gut. Beide beschäftigten sich wissenschaftlich mit den Atmosphären von Planeten. “Ich verstand die Auswirkungen einer so riesigen Staubwolke, weil man sie regelmäßig auf dem Mars beobachten kann“, sagtGolizyn. “Während marsweiten Staubstürmen fällt die Temperatur dramatisch, einfach weil die Sonnenstrahlen nicht mehr zum Boden durchdringen.“ Golizyns Analogie wurde im Jahre 1984 durch Moisejews Forschungen bestätigt.
Weltuntergangsszenario oder weltweite Horrorstory?
In den 1980er-Jahren schockierte die Theorie eines nuklearen Winters die ganze Welt. Der sozialistische Block und der Westen standen kurz vor einem Krieg. In Europa stationierte US-Raketen vom Typ Pershing hätten Moskau in acht bis zehn Minuten erreichen können.
Das führte zu Veränderungen. Als sich Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1985 in Genf erstmals trafen, hieß es in einem gemeinsamen Memorandum „ein Atomkrieg bringt nur Verlierer hervor. Niemals darf es so weit kommen.“ Weniger als ein Jahrzehnt später endete der Kalte Krieg und ein Atomkrieg wurde unwahrscheinlicher.
Die Frage, inwiefern es tatsächlich einen nuklearen Winter gegeben hätte, blieb aber. Viele Wissenschaftler haben die Forschungen von Sagan, Golizyn und Moisejew inzwischen angezweifelt. „Die Computermodelle waren stark vereinfacht und man hatte kaum Informationen zu dem Rauch und den anderen Aerosolen.“ bemerkte das Amerikanische Institut für Physik im Jahre 2011.
Fragen und Zweifel
Sagans Position wurden zudem durch seine Vorhersagen zum ersten Golfkrieg (1990-1991) geschwächt. Er behauptete, dass die brennenden Ölfelder einen ganz ähnlichen Effekt hervorrufen würden und eventuell ein „Jahr ohne Sommer“ verursachen könnten. Dies trat bekanntlich nicht ein.
Sagans wichtigster Gegner, Dr. S. Fred Singer, sagte nach den Ereignissen Anfang der 90er, „Ich habe immer gesagt, dass der „nukleare Winter“ eine wissenschaftlich unhaltbare Fehleinschätzung ist.“
Auch in Russland wird das Konzept inzwischen in Frage gestellt. Sergei Utjuschnikow vom Moskauer Institut für Physik und Technik schrieb in 2001 in einem Artikel namens Simulation der Verbreitung von Schmutz über die Atmosphäre, dass die meiste Asche die Stratosphäre überhaupt nicht erreichen würde.„Die Unreinheiten würden vom Regen weggewaschen werden, ohne das Klima zu beeinflussen.“ sagt Utjuschnikow.
Trotz dieser Kritik glauben viele immer noch an die Hypothese. 2018 schrieben die beiden Wissenschaftler Joshua M. Pierce und David C. Denkenberger zum Beispiel in einem Artikel, dass die Benutzung von mehr als 100 nuklearen Sprengköpfen zu einer globalen Klimakatastrophe führen würde.
Die Diskussion geht also weiter und wird so schnell nicht enden. Glücklicherweise ist es im Vergleich zur Hochphase des Kalten Krieges deutlich unwahrscheinlicher geworden, dass man es je herausfinden wird.