Wie ein russischer Wissenschaftler die Maya-Schrift entzifferte und was Deutschland damit zu tun hat

Russia Beyond (Public Domain; Archive photo)
Jurij Knorosow war es, der den Schlüssel zum Lesen der Texte dieser alten Zivilisation fand. Aber erst 40 Jahre nach seiner bahnbrechenden Entdeckung reiste er zum ersten Mal nach Mexiko.

Der stille und introvertierte Forscher wurde von seinem Umfeld als Sonderling wahrgenommen. Er sprach wenig über sich selbst und hatte das Image eines versponnenen Genies. Um sein geheimnisvolles Wesen ranken sich viele Lügenmärchen und unglaubliche Gerüchte. Er liebte auch Katzen - in seinen wissenschaftlichen Artikeln versuchte er stets, sein Porträt mit seiner geliebten Aspid zu veröffentlichen (und gab sie sogar als Mitautorin an, aber die Redakteure strichen ihren Namen). Er befasste sich bereits zu Studienzeiten mit Mystik und schrieb seine Abschlussarbeit über Schamanismus. Außerdem untersuchte er die Beziehungen zwischen den Kurilen-Ainu und den Indern und befasste sich mit der Entzifferung der Schrift der Osterinsel und der proto-indischen Sprache.

Jurij Knorosow und seine Katze Aspid.

Als der ältere Knorosow Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal nach Mexiko reiste, wurde er wie ein Star begrüßt - fast jedes Kind dort kennt ihn noch immer, obwohl in Russland nur wenige von ihm gehört haben. Knorosow hatte es geschafft, das größte Rätsel Amerikas zu lösen, mit dem sich die Wissenschaftler der spanischsprachigen Welt mehrere Jahrhunderte lang erfolglos herumschlugen - er entzifferte die Schrift der Maya-Zivilisation. Wie ist ihm das gelungen und warum hat er es überhaupt getan?

Ein „Kind der Stalinzeit“

Knorosow wurde 1922 in einer russischen Intellektuellenfamilie in Charkiw geboren. Er überlebte in den 1930er Jahren die Hungersnot in der Sowjetukraine und wurde anschließend als wehruntauglich eingestuft.

Er war gerade im zweiten Jahr seines Geschichtsstudiums an der Universität Charkiw, als die Stadt von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. Über Knorosows Leben während der Besatzungszeit ist nicht viel bekannt, da man dieses Thema zu Sowjetzeiten nicht offen besprach und es besser war, jegliche Informationen darüber gänzlich zu verdecken. Nach der Besatzung zog die Familie nach Moskau, und Knorosow wechselte nach Überwindung einiger Hindernisse an die Moskauer Universität, wo er seine Leidenschaft für Ethnographie entdeckte.

Die Bewohner der besetzten Gebiete standen bei den sowjetischen Behörden im Verdacht, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Und es war dieser „dunkle Fleck“ in seiner Biografie, der über das spätere Schicksal Knorosows bestimmen sollte: Man versperrte ihm die akademische Laufbahn der Promotion und verweigerte Reisen ins Ausland. „Ein typisches Kind der Stalinzeit“, kommentierte Knorosow dies scherzhaft.

Von Moskau zog er nach Leningrad, wo er auf Drängen seiner Professoren am Ethnografischen Museum der Völker der UdSSR angestellt wurde.  Er führte ein sehr bescheidenes, sogar ärmliches Leben in einem winzigen Zimmer in einem Gebäude gegenüber dem Museum und trug stets die gleiche Kleidung. Sein Büro teilte er sich mit anderen Wissenschaftlern, und an seinem kleinen Schreibtisch, umgeben von staubigen Bücherstapeln, löste er die großen Rätsel der Menschheit - inseiner arbeitsfreien Zeit.

Sowjetischer Wissenschaftler auf der Suche nach dem Schlüssel zum Rätsel der Maya

Stuckglyphen der Maya, ausgestellt im Museum von Palenque, Mexiko.

Noch in Moskau stieß Knorosow auf einen Artikel des deutschen Wissenschaftlers Paul Schelhas, der behauptete, die Entschlüsselung der Maya-Schrift sei eine unlösbare Aufgabe. Der junge Wissenschaftler nahm dies als Herausforderung an. 

„Was von einem menschlichen Geist erfunden wird, kann von einem anderen menschlichen Geist gelöst werden“, beschrieb Knorosow später in einem Interview seine Überzeugung. Niemand in der UdSSR hatte sich vor ihm mit diesem Thema befasst, also beschloss er, es zu versuchen.

Als ehemaliger Student der Moskauer Universität half Knorosow bei der Sortierung des Archivs von Militärtrophäen aus Deutschland und fand unter den Materialien der Berliner Bibliothek eine Ausgabe der drei erhaltenen handgeschriebenen „Maya-Codes“, die 1930 veröffentlicht wurden. Darüber hinaus stieß er auf ein weiteres wichtiges Dokument: Den „Bericht über die Angelegenheiten von Yucatán“, eine von dem Franziskaner und Inquisitor Fray Diego de Landa nach der spanischen Eroberung Mexikos und der Maya verfasste Schrift aus dem 16. Jahrhundert. Diese Arbeit liefert wichtige Informationen über die Kultur und die Schrift dieser Zivilisation, Zeichnungen von etwa 30 Hieroglyphen und sogar eine eigene Version des Alphabets in lateinischer Schrift.

Eine Seite aus dem Manuskript von Diego de Landa, Relación de las Cosas de Yucatán, in dem er das berühmte

„Mein erster Schritt war die Verwendung der so genannten positionsbezogenen Statistik. Sie besteht im Wesentlichen darin, die Zeichen zu zählen, die eine bestimmte Position einnehmen. Das Ziel dieser Methode ist es, herauszufinden, welche Zeichen und wie oft sie an bestimmten Stellen vorkommen, z. B. am Ende oder am Anfang eines Wortes, und nicht ihre Anzahl insgesamt“, beschreibt Knorosow die von ihm angewandte mathematische Methode in einem Interview mit der Zeitung Wetschernij Leningrad. Nach der Analyse der Schriftstücke erkannte er, dass jedes Maya-Zeichen eine Silbe darstellt und entwickelte ein System zum Lesen der gesamten Sprache.

Im Jahr 1952 veröffentlichte der Wissenschaftler in einer ethnographischen Zeitschrift einen Artikel mit dem Titel „Alte Schriften in Mittelamerika“, in dem er seine Methode darlegte. Die Arbeit weckte in wissenschaftlichen Kreisen Interesse, und sein ehemaliger Moskauer Professor bot ihm an, eine Dissertation zu diesem Thema zu schreiben. Darüber hinaus beantragte der Professor bei der Verteidigung der Dissertation einen Doktortitel für seinen „Zögling“ und ersparte ihm damit den Kandidatenstatuts, was in der sowjetischen Wissenschaft eine Seltenheit war.

Knorosov arbeitet an seinem Papier, 1952.

Die Entzifferung der Maya-Schrift ermöglichte neue Einblicke in die uralte und rätselhafte Zivilisation Nordamerikas und ein tieferes Verständnis ihrer Kultur und Lebensweise, die für die Welt und insbesondere für den spanischsprachigen Kulturraum von großem Interesse waren.

Star in Lateinamerika, der selbst erst in den 1990er Jahren dorthin gelangte

Nachdem Knorosows Artikel „Das Geheimnis der Maya“ 1956 in der Zeitschrift „Sowjetskij Sojus“ veröffentlicht worden war, wurde die Weltgemeinschaft auf seine Leistung aufmerksam. Der Wissenschaftler veröffentlichte auch eine Monographie über die Maya-Schrift, und (oh Wunder!) er durfte ausreisen, um einen Amerikanistikkongress in Kopenhagen zu besuchen, wo er einen Vortrag über seine Entdeckung hielt.

Denkmal für Juri Knorosow in Mérida, Yucatán, Mexiko.

Mexikanische Studenten, Wissenschaftler und sogar Politiker begannen Knorosow in Leningrad zu „verehren“. Er wurde sogar vom abgesetzten Präsidenten von Guatemala (wo auch die Maya lebten), Jacobo Arbenz Guzmán, besucht, der im Gästebuch des Museums einen Eintrag über den „liebenswürdigen sowjetischen Wissenschaftler Knorosow, der sich um unser Maya-Volk so sehr verdient gemacht hat“ hinterließ. 

In den 1970er Jahren veröffentlichte der erste sowjetische Mayaforscher auch eine Übersetzung der verfügbaren Mayatexte. Für seine wissenschaftlichen Verdienste wurde er mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet und mit Jean-François Champollion verglichen, der im 19. Jahrhundert die ägyptischen Hieroglyphen entziffert hatte. Diese Analogie schmeichelte Knorosow natürlich.

Pyramide von Kukulkan, Chichen-Itza, Yucatan, Mexiko.

Knorosow konnte sich seinen Traum, die Maya-Schriften einmal persönlich zu sehen, erst in den 1990er Jahren erfüllen. 40 Jahre waren seit seiner Entdeckung vergangen, er war bereits ein älterer Mann. Der Wissenschaftler reiste auf private Einladung des Präsidenten nach Guatemala und besuchte anschließend dreimal Mexiko. Schließlich suchte er zum ersten Mal die wichtigsten architektonischen Monumente der Maya - Palenque, Merida, Uxmal, Dzibilchaltun und viele andere – auf. Außerdem erhielt er eine Ehrenauszeichnung des mexikanischen Botschafters in Russland, den Orden des Aztekenadlers, auf den er sehr stolz war. 

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