Wie daheim im Schwarzwald: Volksfest im russlanddeutschen Halbstadt im Altai. Foto: Diana Laarz
Das Fest steigt im deutschen Nationalbezirk Halbstadt, hier wohnen Nachfahren jener Deutschen, die auf Einladung Katharinas der Großen Ende des 18. Jahrhunderts gen Osten zogen.
Gut 20 Jahre ist der Bezirk nun alt, und nicht nur die Bewohner staunen, wie sich ihr Fleckchen Deutschland in dieser Zeit entwickelt hat. Auch die Gäste sind voll des Lobes. Heiko Kümmel vom Partnerlandkreis Schmalkalden-Meiningen (Thüringen) ist nach 15 Jahren mal wieder zu Besuch. „Wir würden wahrscheinlich nicht mal ein Fünftel der Kinder von Halbstadt zusammenbringen“, sagt er mit Blick auf die tobende Schar um ihn herum. „Die Menschen sind offener, aufgeschlossener als vor einigen Jahren. Es ist Bewusstsein da, und auch Stolz.“
Stolz sind sie vor allem auf ihre Geschichte. Genau genommen ist der Bezirk nämlich schon viel älter als 20 Jahre. Die ersten deutschen Siedlungen im Altai entstanden Ende des 19. Jahrhunderts. 1927 wurde der Nationalbezirk gegründet – mit Halbstadt im Zentrum. Im Gebiet lebten 13 155 Menschen, 96 Prozent von ihnen waren Deutsche. 1938, unter Stalin, wurde der Bezirk aufgelöst und erst 1991 beinahe in seinen ursprünglichen Grenzen neu gegründet. Heute umfasst er 16 Dörfer mit 22 000 Einwohnern, darunter etwa 10 000 Angehörige der deutschen Minderheit – und Frauen wie die 52-jährige Valentina Stier. Die antwortet auf die Frage, was für sie Heimat sei: „Heimat ist für mich die deutsche Sprache, die Sprache meiner Vorfahren.“
Plattdeutsch im Altai
Wenn Valentina Stier mit ihrem Mann spricht, dann benutzt sie die konservierte Form eines alten plattdeutschen Dialekts. Eine Geheimsprache. Der Sohn und die Tochter, die jeden Sonntag mit den Enkelkindern zu Besuch kommen, verstehen davon nur einzelne Fetzen. „Ich bin eine Plaudertasche“, gesteht Valentina Stier lachend. Und am liebsten plaudert sie auf Deutsch. Am schwerfälligen Gang der Russlanddeutschen sieht man, dass sie ihr Leben lang in der Landwirtschaft geschuftet hat. Das Gesicht allerdings, umrahmt von kurzen grauen Haaren, trägt die Züge eines Lausemädchens.
Nach der Perestroika hätte Valentina Stier dem Strom der Aussiedler folgen und nach Deutschland ziehen können. Ihr zweiter Sohn wohnt nun schon seit vielen Jahren dort. Der Wunsch war da, daran erinnert sie sich. „Aber ich war in meinem Leben noch nie woanders. Ich bin nicht ausgewandert, weil ich auf diesen Ort nicht verzichten kann. Ich bleibe hier.“ Ihre kulturellen Werte halten die Halbstädter auch fern von Deutschland hoch. In manch einem Vorgarten steht ein Gartenzwerg. Weihnachten und Ostern wird jeweils zweimal gefeiert. Einmal auf Deutsch, einmal auf Russisch. Das Leben in zwei Welten hat also durchaus seine Vorteile.
Mit finanzieller Hilfe aus Russland und Deutschland ist der Nationalbezirk in den vergangenen Jahren zu einer Art Vorzeigekreis im Altai-Gebiet geworden. Die landwirtschaftliche Produktivität ist bedeutend höher als bei den Nachbarn, 1995 haben sich elf Kolchosen zur GmbH „Brücke“ zusammengeschlossen. Die deutsche Regierung half vor allem in den Anfangsjahren bei den Aufbauarbeiten, der Rekonstruktion des Stromnetzes, der Versorgung mit Medikamenten, der Verbesserung des Deutschunterrichts und der Eliteförderung.
Aus dem Kreml fließt Geld für die Erweiterung der Schule, den Bau von neuen Einfamilienhäusern, die Ausbesserung der Straßen und eine Generalüberholung der Wasserversorgung. Für die Berliner Ministerien geht es darum, den Russlanddeutschen in Russland gute Lebensbedingungen zu schaffen, für die Moskauer Regierung ist die Förderung von Halbstadt Teil der Minderheitenpolitik.
Längst nicht alles ist perfekt in Halbstadt. Noch immer ziehen Leistungsträger gen Deutschland, und die Wirtschaft kann dies nur schwer verkraften. Die jüngere Generation entfernt sich immer mehr vom deutschen Erbe, nur wenige sprechen Deutsch. Trotzdem übt der Ort auf seine aktuellen und ehemaligen Bewohner einen unübersehbaren Reiz aus.
Wenn im Sommer gefeiert wird, wenn Ribbelkuchen verkauft wird, die deutschen Lieder erklingen und die Trachten aus den Schränken gekramt werden, dann werden einige Gäste mit besonders lautem „Hallo“ begrüßt.
Es sind die Rückkehrer aus Deutschland. Menschen, die schon seit mehr als zehn Jahren in Hamm oder Soest wohnen. Jeden Sommer packen sie den Kofferraum ihres Wagen voll, setzen sich hinters Steuer und fahren mehrere Tage lang für die Sommerferien in die alte russische Heimat. „Halbstadt bedeutet für mich Freiheit. Hier kann ich angeln, Lagerfeuer machen und Fahrrad fahren, wo immer ich möchte“, sagt Urlauber Sergej Ulrich. Deutschland habe aber natürlich auch seine Vorteile. Der größte: „In Hamm gibt es keine Mücken, hier sind sie eine Plage.“
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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