Auf den ersten Blick klingt alles ganz einleuchtend: „Die Aufgaben, die dem Verteidigungsministerium und den Streitkräften gestellt war, ist im Großen und Ganzen erfüllt“, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag, ordnete daraufhin den Teilabzug der russischen Truppen aus Syrien an und rief dazu auf, sich nun weiter intensiviert um eine diplomatische Lösung des syrischen Konflikts zu bemühen.
Dazu sollen sich nach Moskaus Plänen alle Beteiligten an einem Tisch versammeln, auch die syrischen Kurden. „Es ist selbstverständlich, dass (der Verhandlungsprozess) das ganze Spektrum der politischen Kräfte in Syrien einschließen muss, sonst kann er nicht als Vertreterforum betrachtet werden“, erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow.
Die syrischen Kurden könnten Russland ebenso wie die Assad-treuen Alawiten und Sunniten also dankbar sein, hat der russische Militäreinsatz doch diesen Durchbruch für sie erzielt. Ob das der Grund für Moskaus spontanen Richtungswechsel ist, der zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem die Militäroperation in Syrien noch nicht als abgeschlossen erachtet werden kann?
Welche anderen, vielleicht auch versteckten Motive könnte Russland haben? Gab es Befürchtungen, es könnte früher oder später ein Aufeinandertreffen mit saudischen und türkischen Bodentruppen geben? Oder steckt dahinter die Absicht, sich durch eine militärische und diplomatische Intervention nach einem Ende des Bürgerkriegs in Syrien Vorteile zu sichern?
Ein möglicher Erklärungsansatz: Russland und ein anderer Garant der aktuellen Waffenruhe – die USA – übernehmen die Zergliederung von Syrien und wandeln es in eine „Föderation“ um, bestehend aus einem Syrien mit einer neuen, allen genehmeren Regierung in Damaskus sowie einem syrischen Kurdistan, das mehr oder weniger sensibilisiert für russische Interessen ist?
Professor Grigorij Kosatsch, Arabist an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften, hält Letzteres für durchaus wahrscheinlich: „Moskau behält Einfluss auf die Regierung und zwei große Gebiete in Syrien. Das reicht als Lohn.“
Aber wie hängt das mit dem ursprünglich formulierten Ziel, dem „Islamischen Staat“ und anderen terroristischen Gruppierungen in Syrien den Todesstoß zu versetzen, zusammen? „Durch den russischen Militäreinsatz konnten die Dschihadisten in Syrien deutlich zurückgedrängt werden“, versucht Kosatsch zu erklären.
Vielleicht könnte Moskau seine Ziele erreichen, wenn der Einsatz als Friedensmission wahrgenommen würde. Immerhin hat Moskau erneut bewiesen, dass es bei Konflikten nahe russischer Grenzen Einfluss auf die Beteiligten geltend macht und versucht, diese Konflikte zu lösen.
Skeptiker halten den russischen Teilabzug jedoch für eine Niederlage im hart geführten syrischen Bürgerkrieg. Statt von einem Abzug sprechen sie von einem Rückzug.
Kremltreue Kräfte dagegen sehen in der jüngsten Entscheidung einen Beleg für die Effektivität der beidseitigen Bemühungen – sowohl militärisch, indem das Assad-Regime gestärkt werden konnte, als auch diplomatisch. Zudem ist ein Abzug eine freiwillige Handlung und auf Dauer sehr vernünftig. Dem Rückzug haftet dagegen der Makel des Erzwungenen, der Flucht an.
Doch kam der Abzug zur richtigen Zeit? Nun ja, an der Börse ist es üblich, Aktien zu kaufen, wenn der Preis niedrig ist, um sie dann mit Gewinn zu verkaufen. Die Antwort lautet also wohl: Ja.
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