Nato-Gipfel: „Sie wollen Frieden und rüsten sich für den Krieg“

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Reuters
„Sie wollen Frieden und rüsten sich für den Krieg“, so charakterisieren russische Militärexperten das Vorgehen der Nato, das auf dem Gipfel in Warschau besiegelt wurde. Gegenmaßnahmen aus Moskau erwarten sie aber nicht.

Das nordatlantische Bündnis erweitert sein Kontingent in Polen und im Baltikum um vier Divisionen. Diese Entscheidung wurde während des Gipfels in Warschau am Wochenende besiegelt. Insgesamt ist geplant, dass im Rahmen dieser Vereinbarung bereits im nächsten Jahr 4 000 Militärangehörige des Bündnisses auf Rotationsbasis stationiert werden.

Formal verletzt der Block damit die 1997 unterzeichnete Russland-Nato-Grundakte nicht. Laut diesem Abkommen verpflichtet sich die Militärallianz, keine „bedeutenden Militärkontingente“ in der Nähe zur russischen Grenze zu stationieren.

Allerdings erklärten die Mitglieder der Allianz zudem, dass der europäische Teil des Anti-Raketen-Schutzschilds der USA nun gefechtsbereit sei. Damit haben die US-Marinebasis im spanischen Rota, die Funkortungssysteme in der Türkei und die Abfangraketen-Stützpunkte in Rumänien ihre Zusammenarbeit zur Abwehr möglicher, gegen die Allianz gerichtete Gefahren aufgenommen. Und die Schiffe der US-Navy tauchen weiterhin im Schwarzen Meer auf. Vor allem das stößt in Moskau auf Kritik.

Keine guten Voraussetzungen also für einen Dialog. Dennoch wollen die Seiten schon bald wieder offiziell miteinander sprechen: auf der Russland-Nato-Tagung am Mittwoch. Die Nato-Spitze verkündete bereits ihren Wunsch, eine Reihe von „Vertrauensmaßnahmen“ zu ergreifen. Dazu zählen der Einsatz von Transpondern in russischen als auch Nato-Kampfflugzeugen – um „eigene“ von „fremden“ Flugzeugen zu unterscheiden – sowie ein Abkommen über die Warnung vor Vorfällen in der Luft und auf dem Meer. Sollten diese Abkommen realisiert werden, wird man von einem Abbau der Spannungen in den Beziehungen sprechen können.

Gegenwärtig sind diese alles andere als ausgeglichen. Im Vorfeld des Nato-Gipfels stellte US-Präsident Barack Obama in der „Financial Times“ die Bedrohung für die territoriale Unversehrtheit Europas, die seinen Worten nach von Russland ausgehe, in eine Reihe mit dem Vorgehen des „Islamischen Staates“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa reagierte mit der Erklärung, dass die „Nato in einem militärisch und politischen Spiegelland“ lebe, und warf dem Bündnis vor, seine Anstrengungen auf die Eindämmung „einer nicht existenten ‚Gefahr aus dem Osten‘“ zu konzentrieren.

Es hätte noch schlimmer kommen können

Wladimir Jewsejew, stellvertretender Direktor des Instituts für GUS-Staaten, überrascht solche Anschuldigungen nicht. Seit Beginn der Ukraine-Krise, so meint der Militärexperte, habe die Allianz ihren Mitgliedsstaaten suggeriert, das mit dem Zerfall der Sowjetunion verlorengegangene Ziel in Zukunft wieder verfolgen zu müssen: Moskau zu widerstehen.

Dahinter steckt ein tieferer Sinn, glaubt Jewsejew: „Die aus politischer Sicht eher unwahrscheinliche ‚russische Bedrohung‘ und die realen Herausforderungen im Kampf gegen den ‚Islamischen Staat‘ helfen der Allianz, sich in Zeiten des Brexit und ähnlicher Fliehkräfte in Europa zusammenzuraufen.“

Und welche Folgen hat das Ergebnis des Gipfels für Moskau? Es hätte noch schlimmer, aber kaum besser ausfallen können, meint der Experte. „Es ist eine Art Kompromiss. Formal wird die Bereitschaft zur Zusammenarbeit verkündet, während faktisch weniger eine Politik der Zurückhaltung als der Abschreckung gegenüber Russland betrieben wird. Sie wollen Frieden und rüsten sich für den Krieg“, resümiert Wladimir Jewsejew.

Dennoch wird Russland keine zusätzlichen Maßnahmen in Antwort auf das Vorgehen und die politischen Ankündigungen der Nato ergreifen, ist Wiktor Murachowskij, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Arsenal Otetschestwa“ (zu Deutsch „Arsenal der Heimat“), überzeugt. „Das Verteidigungsministerium orientiert sich an dem reellen Militärpotenzial unserer Nato-Partner und nicht etwa an den Ankündigungen deren Führung oder irgendwelcher Politiker“, meint der Experte.

„Die Militärbehörde setzt ihren Plan zum Ausbau der russischen Streitkräfte um, der vom Präsidenten für den Zeitraum bis 2025 bestätigt wurde. In diesem Rahmen werden neue Einsatzkräfte im westlichen Militärbezirk stationiert und die Armee grundlegend mit modernen Waffensystemen ausgestattet“, erklärt Murachowskij.

Tatsächlich teilte jedoch im Januar der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu mit, dass die Umsetzung von Gegenmaßnahmen angelaufen sei: In westlichen Regionen würden drei neue Divisionen von jeweils bis zu 13 000 Soldaten in Friedenszeiten geschaffen, um dem bereits damals in Vorbereitung befindlichen Beschluss der Allianz entgegenzuwirken.

Dringt die Nato bis nach Asien vor?

Inzwischen richteten die USA und die Nato ihren Blick bereits auf Asien, glaubt Jewsejew. „Die US-Regierung versteht, dass sie zur Bewahrung ihrer militärisch-politischen Vorherrschaft auf der Weltbühne nicht nur ihren Einfluss in Europa konsolidieren, sondern diesen auch nach Asien ausweiten muss, um die aufkommende Gefahr vonseiten Chinas eindämmen zu können“, bemerkt der Experte.

Washington habe bereits die Fertigung von zwölf mit Fernlenkraketen ausgestatteten Zerstörern zur Verstärkung ihrer Flottenstreitkräfte im Asien-Pazifik-Raum aufgenommen. „Unter dem Deckmantel der verschlechterten Beziehungen zu Russland werden die Vereinigten Staaten allmählich in den Asien-Pazifik-Raum vordringen. Diese Tendenz wird sich unter dem zukünftigen Präsidenten noch weiter verstärken, ungeachtet dessen, wer nun im Oval Office Einzug halten wird – Trump oder Clinton“, vermutet Jewsejew.

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