Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bei einem Besuch eines Verteidigungspostens nahe der Stadt Gorlowka im Konfliktgebiet Ostukraine, Dezember 2015.
ReutersDie Lage in der Ostukraine ist innerhalb weniger Tage eskaliert. Seit vergangenem Sonntag beschuldigen sich Kiew und die selbst ernannte Donezker Volksrepublik gegenseitig, die Waffenruhe verletzt zu haben. Das Ergebnis: Dutzende Tote sowie ganze Ortschaften ohne Strom- und Wärmeversorgung.
Wer mit dem schweren Beschuss angefangen hat, ist bislang unklar. Doch haben die Kämpfe den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko veranlasst, seinen Deutschland-Besuch abzubrechen, eine Sondersitzung der Ukraine-Kontaktgruppe einzuberufen und an den UN-Generalsekretär zu appellieren. Die Verantwortung für die Zusammenstöße wird traditionell Russland zugeschoben: „Wir fordern die Russische Föderation dazu auf, die Feindseligkeiten unverzüglich einzustellen und die Waffenruhe strikt einzuhalten“, heißt es in einer Mitteilung des ukrainischen UN-Botschafters Wladimir Jeltschenko. Am Dienstag kam der ständige OSZE-Rat in Österreich zu einer Sondersitzung zusammen.
Beachtenswert ist, dass die Kämpfe in der Ostukraine just nach dem Telefonat Wladimir Putins mit seinem amerikanischen Amtskollegen Donald Trump aufgeflammt sind. Zuvor hatte der neue US-Präsident mehrmals seinen Willen erklärt, sich vom Ukraine-Konflikt zu distanzieren. Derzeit rückt der Konflikt jedoch wieder in den öffentlichen Fokus. Die Kämpfe dauern an, die Minsker Abkommen geraten in Vergessenheit.
Beschossen wird das Gebiet zwischen Donezk und der Industriestadt Awdejewka, in deren Nähe die Entflechtungslinie verläuft. Vor der Eskalation befand sich die Stadt unter ukrainischer Kontrolle, nur wenige Tage nach den Kämpfen ging sie an die Aufständischen über. Die Menschen in Awdejewka sind von der Strom- und Wärmeversorgung abgeschnitten – und das bei Eiseskälte.
OSZE-Beobachter berichten von Panzern und Geschützen, die in der Stadt stationiert sind. Angaben zu Toten und Verletzten gehen weit auseinander. Nach Informationen aus Kiew wurden die ukrainischen Truppen allein in den letzten 24 Stunden 71 Mal beschossen, drei Soldaten wurden dabei getötet. Das Verteidigungsministerium der Volksrepublik Donezk geht von weitaus größeren Verlusten auf ukrainischer Seite aus: Es spricht von mindestens 78 Toten und 76 Verletzten bei den Kämpfen in Awdejewka. Dabei soll die ukrainische Armee mehr als 2 400 Mal auf die selbst ernannte Volksrepublik geschossen und einen Anschlag auf ein Munitionslager vorbereitet haben.„Niemand weiß genau, was dort passiert ist, wer die Lunte am Pulverfass gezündet hat“, sagt Konstantin Bondarenko, Leiter der Stiftung „Ukrainische Politik“. „Aber Awdejewka wäre früher oder später ohnehin passiert. Die Lage dort war schon immer brandgefährlich, beide Seiten verstießen regelmäßig gegen die Minsker Abkommen“, stellt der Beobachter fest. Von der Vorstellung, Kiew habe mit der jüngsten Eskalation die Aufmerksamkeit im Weißen Haus und bei der OSZE auf sich ziehen wollen, hält Bondarenko nichts. „Hier nach Zusammenhängen zu suchen, lohnt sich nicht. Trump spielt solche Spielchen nicht mit. Und Kiew weiß das natürlich“, meint der Experte.
Andere Beobachter sind hingegen davon überzeugt, dass Kiews Wunsch, die Ukraine wieder auf die Agenda zu setzen, die Eskalation vorantreibt. Eine weitere denkbare Ursache: Kiews Unwille, die Minsker Abkommen umzusetzen. „Dieses aggressive Vorgehen – Kiew zeigt das durch den Einsatz der ukrainischen Truppen – untergräbt die Ziele und Aufgaben der Umsetzung der Minsker Abkommen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow dem Radiosender KommersantFM. Die jüngste Eskalation gleiche einem Versuch, die Aufmerksamkeit von der durchaus labilen innenpolitischen Lage der Ukraine abzulenken, erklärte er.
„Der IS-Terror, Syrien, China, eigene innpolitische Probleme – das beschäftigt die USA weitaus mehr als der Donbass-Konflikt, den alle satthaben“, meint Andrej Susdalzew, stellvertretender Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Verwaltung. „Und hier fällt Poroschenkos Arbeitsbesuch in Berlin auf wundersame Weise mit der Eskalation zusammen. Das sieht doch schon sehr verdächtig aus. Poroschenko spielt ein doppeltes Spiel“, meint der Politologe in einem Gespräch mit RBTH.
Als Ablenkungsmanöver Kiews sieht auch Boris Schmelojw, Leiter des Zentrums für Außenpolitik am Institut für Wirtschaft der Russischen Akademie der Wissenschaften, die Zusammenstöße. Die Ukraine sei tatsächlich in schlechter Verfassung: Die Reformerfolge seien sehr bescheiden, die Wirtschaft befinde sich in einer tiefen Krise, Poroschenko stehe scharf in der Kritik. „Wenn Kiew provoziert, reagiert Donezk sofort. Vorbedingungen für eine Regulierung des Konflikts gibt es derzeit keine, es ist eine Pattsituation. Da müssen von Zeit zu Zeit die Fäden gezogen werden“, meint Schmeljow.Deshalb aber werde die Ukraine weder in Moskau noch in Washington für schlaflose Nächte sorgen: „Der Donbass hat genug Möglichkeiten, um jeden Angriff abzuwehren. Ihre Aufgabe, ist es, durchzuhalten. Sie können ewig so weitermachen, so lange Russland und die USA sich darauf verständigen, Poroschenko zur Umsetzung der Abkommen zu drängen“, sagt Außenpolitikexperte Schmelojw.
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