Hubschrauber gegen die Strahlung

Hubschrauber Aktion in Thernobyl Foto: Photoxpress

Hubschrauber Aktion in Thernobyl Foto: Photoxpress

Gleich nach dem Super-GAU in Tschernobyl wurden Hubschrauber eingesetzt: Sie warfen Sandsäcke in die klaffende Reaktorschlucht ab. Ihre Piloten sind dabei oft tödlich verstrahlt worden.

Am 26. April 1986 ereignete sich im Kernkraftwerk Tschernobyl eine nukleare Katastrophe. Um den havarierten Reaktorblock 4 aus der Luft zu versiegeln, wurden Militärhubschrauber eingesetzt. Die Besatzungen waren regelrecht im Atomkrieg - und extremer Strahlung ausgesetzt. Der damalige Stabschef der Luftstreitkräfte des Militärbezirks Kiew, Kommandeur der Hubschrauberstaffel und Leiter der Operation zur Löschung des brennenden Reaktors aus der Luft, General Nikolai Antoschkin, wird die Erinnerung an die schrecklichen Stunden und Tage nicht mehr los. Begriffe wie Codename „Kubok“ (Pokal), "Strahlenlaryngitis" oder "todgeweiht" haben sich in tief in sein Bewusstsein eingebrannt. 

Alles begann am Abend des 26. April 1986, 16 Stunden nach der Explosion: Nikolai Antoschkin stand in Pripjat auf dem Dach des zehngeschossigen gleichnamigen Hotels und beobachtete das Lodern eines dunkelroten Feuers, aus dem ein gigantischer schwarzer Rauchkegel in den Himmel stieg. Er stammte vom gerade einmal anderthalb Kilometer entfernten explodierten Reaktorblock 4 und warf unsichtbare Todesstrahlen. Die Werksfeuerwehr hatte zwar die Flammen rund um den Reaktor gelöscht, doch im Reaktorinneren brannten noch immer 2 500 Tonnen Graphit mit über 3 000 Grad Celsius und leiteten die Kernschmelze ein.

Hier in Pripjat, der "Stadt der Atomkraftwerker", wohnten 50 Tausend Leute, die meisten arbeiteten im Atomkraftwerk. Ihre vorläufige Evakuation in die etwas weiter entfernte Bezirksstadt Tschernobyl wurde vorbereitet. Einer der Arbeiter hatte ihm zugerufen: „Die ganze Schicht ist umgekommen, wir sind alle verseucht.“ Worte, die ein ganzes Leben haften bleiben sollten.

Antoschkin wollte sich auf dem Dach einen ersten Überblick verschafften und hatte sich dafür nur einen leichten Flieger-Overall über seine Uniform gezogen und eine Gasmaske aufgesetzt. Das war die gesamte Strahlenschutzausrüstung!

Der erste Angriffsplan

Sowjetische Atomexperten schlugen als erstes vor, den Reaktor mit einer Sandschicht zu versiegeln. An den havarierten Reaktorblock konnte man jedoch nur aus der Luft herankommen. Die Zeit drängte, weswegen Hubschrauber möglichst schnell damit beginnen sollten, Sandsäcke über dem glühenden Krater abzuwerfen. Unverzüglich wurde ein Hubschraubergeschwader angefordert. Mehrzwecktransporthubschrauber vom Typ Mi-6 und Mi-8 setzten den Befehl unverzüglich um und trafen bei widrigen Flugbedingungen - Nacht, Gewitter und niedrige Wolkendecke -  auf dem nächstgelegenen Militärflugplatz ein. Die Besatzungen bestanden aus erfahrenen Piloten, die ihre Feuertaufe gerade in Afghanistan bestanden hatten.

Mit den ersten beiden Mi-8-Helikoptern, die von Oberst Boris Nesterow und Oberst Alexander Serebrjakow gesteuert wurden, unternahmen die Mitglieder der in aller Eile gebildeten Regierungskommission einen Erkundungsflug über dem Atomkraftwerk. Gleichzeitig wurde die Radioaktivität über Reaktorblock 4 in ihrem Höhendiagramm bestimmt. Die Auswertung ergab, dass die Hubschrauber zum Abwerfen der Sandsäcke drei bis vier Minuten im Schwebeflug über dem strahlenden Reaktor verharren mussten. In dieser Zeitspanne würden die Piloten bei jedem Flug einer Strahlendosis von 200 bis 800 Millisievert (mSv) ausgesetzt sein. Schon das  läge mindestens 50-mal über der maximal erlaubten Jahresdosis eines Atomkraftwerkers. Und es waren sehr viele Flüge notwendig.

Um an den Reaktor heranzukommen, war nicht nur wegen der Strahlung gefährlich, es störte auch der 150 Meter hohe Schornstein . Für der Aufklärung und Festlegung der Einflugschneisen wurden weitere Flüge vorgenommen, die so viel Staub und radioaktive Partikel aufwirbelten, dass die Piloten mit Atemnot zu kämpfen hatten.„Alles war verseucht, und die Hubschrauber brachten auch Radioaktivität zum Stadion, wo die Hubschrauber stationiert waren. Das wussten die Mütter nicht, die mit ihren Kindern dorthin pilgerten, um ihren Sprösslingen die riesengroßen Maschinen zu zeigen. Es war schrecklich", so erinnert sich der General.

500 Mal schlimmer als Hiroshima

In Pripjat wusste zu dem Augenblick noch niemand, dass der Gesamtausstoß an radioaktiven Stoffen um das 500-fache über dem der Hiroshima-Bombe lag. Für alle wurde vom frühen Morgen an überall - in Gaststätten, Kantinen, Kneipen und Kiosken - kostenlos Wein, Wodka und Bier abgegeben. Dazu gab es einen Imbiss: Man setzte darauf, dass bei der Entwässerung des menschlichen Organismus durch Alkohol die Gefahr einer Verstrahlung verringert werden würde.„Während die Einwohner evakuiert wurden, durften wir nicht fliegen. Man befürchtete, dass durch das Abwerfen der Sandsäcke wieder größere Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt werden könnten und das ganze Zeug auf die Menschen niederregnen würde“, erklärt Nikolai Antoschkin.

Gegen 14 Uhr fuhren die ersten Autobusse in einer Karawane aus Pripjat hinaus. Den Bürgern wurde erklärt, sie müssten die Stadt lediglich für fünf Tage verlassen. Mitnehmen durfte jeder nur Geld, Ausweispapiere und einige wenige persönliche Sachen. Binnen zweieinhalb Stunden wurden 44 600 Menschen evakuiert: Sie konnten nicht wissen, dass sie ihre Heimatstadt niemals wieder sehen würden. Da es verboten war, Haustiere mitzunehmen,  liefen den Fahrzeugen die von ihren Besitzern freigelassenen Hunde noch lange nach.

Sobald die Stadt leer war, steuerte der erste mit Sandsäcken beladene Hubschrauber das Ziel an. Mit einer Geschwindigkeit von 140 Stundenkilometern flog die Mi-8 direkt auf Block 4 zu und schwebte in 110 Metern Höhe über dem zerstörten Reaktor. Die Radioaktivität war so hoch, dass das Dosimeter, dessen Anzeige Strahlungswerte bis zu 5 Sievert  (Sv) registrieren kann, voll ausschlug und danach seinen Dienst versagte.

Der erste Hubschrauber sackte im Horizontalflug über dem Epizentrum plötzlich 30 Meter in die Tiefe. Alle hielten den Atem an, denn die enorme Lufttemperatur verringerte abrupt die Schubkraft der Rotorblätter. Doch der erfahrene Pilot konnte die Maschine rechtzeitig abfangen. Der durch ein Seil im Frachtraum gesicherte Bordmechaniker erstarrte zunächst beim Blick in das nukleare Inferno, doch er konnte noch geistesgegenwärtig  die Sandsäcke abwerfen. Hochgewirbelter Staub und radioaktive Graphitasche setzten sich sofort in den Atemwegen der Besatzung fest. Damit konnten sie sich nicht lange aufhalten, denn ihnen folgte bereits der nächste Helikopter. 27 Hubschrauber, die jeweils in Dreiergruppen starteten, waren ununterbrochen im Einsatz.

Schrecklicher als in Afghanistan

Am ersten Tag warfen die Hubschrauber 56 Tonnen Sand ab. Die unerträgliche Hitze und die physische Überlastung verursachten bei den Besatzungen Brechanfälle.„Zwei, drei Flüge – und ab ging’s ins Gebüsch“, erinnert sich Antoschkin. Das in großen Mengen freigesetzte radioaktive Jod-135 färbte die Atemschutzfilter rot. „Wir spürten einen Metallgeschmack auf den Lippen, die Zunge war taub, alle konnten nur noch krächzen. Jeden Tag habe ich an die Piloten und Bordmechaniker Jodtabletten ausgegeben, die durch Überdosierung verhindern sollen, dass sich radioaktives Jod in der Schilddrüse sammelt. Die Besatzungen haben Heldenhaftes geleistet, sind freiwillig 33 Mal am Tag gestartet, obwohl der Befehl nur 20 Flüge vorsah.“

Wie Antoschkin weiter berichtet, kommentierten die Piloten ihren Einsatz mit folgenden Worten: „In Afghanistan wird geschossen, aber du weichst aus, erfüllst deine Gefechtsaufgabe und vergisst das Ganze. Hier in Tschernobyl spürst du gar nichts, du wirst von einem unsichtbaren Feind besiegt. Das ist schlimmer als Krieg.“

„‚Was sagst du eigentlich den Piloten, wie viel Strahlung sie da oben pro Stunde abkriegen?‘ stellte mich damals der Kernforscher Waleri Legassow zur Rede. Ich antwortete, weil ich nichts Besseres wusste: ‚10 bis 15 Sievert.“ Darauf Legassow: ‚Nein, du belügst deine Leute. Es sind doppelt bis dreimal so viel - 30 bis 35 Sievert.‘“

Blei sichert das Überleben

Unerwartet stellte sich heraus, dass die immer dicker werdende Sandschicht die Temperatur im Inneren des havarierten Reaktors ansteigen ließ. Die Wissenschaftler berieten und entschieden, nur noch Blei abzuwerfen. Generalstabsmäßig wurde aus der gesamten Sowjetunion Blei herbeigeschafft. Es wurde in Form von Barren, Blöcken oder gesacktem Bleikies geliefert. Erst jetzt konnten die Piloten eine Art von Strahlenschutz bauen. Sie schoben Bleiplatten unter die Sitze und legten die Bodenplatten der Hubschrauber damit aus. Doch da waren schon hunderte Flüge unternommen und hunderte Tonnen Füllmaterial über dem Reaktor abgeworfen.

Am Ende eines Einsatztages wurde die gesamte Flugtechnik dekontaminiert, die Besatzungen mussten in die Sauna. Jeder, der in der Evakuierungszone zu tun hatte, bekam täglich neue Uniform und ein Paar Schuhe. „Wenn bei einem Piloten die Einmaldosis 370 mSv überschritt, nahm ich ihn aus dem aktiven Flugdienst und wies ihm einen nicht strahlenexponierten Arbeitsplatz als Dispatcher auf den Start- und Landeplätzen zu," beschreibt Nikolai Antoschkin seine Sorge um seine Piloten.

Sechstausend Millisievert abbekommen, elf Kilo abgenommen, am Leben!

Es brauchte vier ganze Tage, bis der Einsatz des Geschwaders geordnet lief. Pausenlos flogen die Besatzungen das Ziel an, die Starts und Landungen erfolgten im 30-Sekunden-Takt. Von den 80 Hubschraubern waren noch etwa 30 vor Ort, die ersten 27 Besatzungen kamen auf Antoschkins Befehl zur medizinischen Behandlung nach Kiew und Moskau. Sie alle wiesen typische Verstrahlungssymptome wie Heiserkeit und eine rotbraun verbrannte Gesichtshaut auf. Die Ärzte diagnostizierten, dass Schilddrüse, Lymphknoten und Leber jeweils stark mit Radionukliden versucht waren. Einen Monat lang wurden den Helden von Tschernobyl mit wiederholten Transfusionen die Uran- und Plutoniumsalze aus dem Blut gewaschen.

Doch im Irrglauben, nicht krank sein zu wollen, um bei den berühmten Luftstreitkräften bleiben zu können, rissen die Männer die Seiten mit den Angaben zur absorbierten Strahlung aus ihren Flugbüchern und trugen statt der tatsächlich abbekommenen Dosis von 1 000 mSv  nur die für diesen Katastrophenfall erlaubten 310 mSv ein. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie todgeweiht waren, Tote auf Abruf.

Jetzt konnte sich Generalmajor Antoschkin selbst eine Atempause gönnen. „In den zehn Tagen Tschernobyl habe auch ich ziemlich viel Strahlung abbekommen“, sagt Nikolai Antoschkin. „Ich hatte die ganze Zeit ein Dosimeter in der Tasche. Meine Dosis lag bei ungefähr 6 000 mSv, ich nahm 11 Kilo ab. Als ich zum ersten Mal nach Hause kam, habe ich anderthalb Tage durchgeschlafen. Meine Frau hat mich wachgerüttelt und mir ein bisschen Tee eingeflößt, danach bin ich augenblicklich wieder eingeschlafen.“

Im Krankenhaus in Kiew machten die Ärzte vor Antoschkin einen großen Bogen. Wenn er sich näherte, begannen die Geigerzähler gefährlich zu summen. Sie verordneten dem General Vitamine und Schlaftabletten, das war alles. Doch er wollte wissen, wie es um seine Mannschaft stand und riss aus der Klinik aus.  

„Der Tod der Mannschaft ist als Verschlusssache zu behandeln“

Solange er den Einsatz des Verbandes der Luftstreitkräfte in Pripjat leitete, verlor er keinen Mann - weder in der Luft, noch auf dem Boden.

Trotz der übermenschlichen Aufgaben, die die Bewältigung der Katastrophe erforderte, verlief der Krieg gegen den unsichtbaren Feind erfolgreich. Zu einem operativen Unfall kam es erst und zum einzigen  Mal im Herbst 1986. Die erste Wand des Sarkophags über Block 4 war fertig, und Hubschrauber mussten ihn mit einer Deaktivierungslösung besprühen und flogen dazu dicht an den Betonmantel heran. Als die Besatzung einer Mi-8 den Ausleger eines 160 Meter hohen deutschen Schwerlastkrans unterquerte, verfing sich das Heck ihres Hubschraubers in der Krantrosse, und sie stürzten ab. Die operative Führung entschied, dass der Tod der Mannschaft als Verschlusssache zu behandeln sei. Natürlich wurde der tödliche Unfall in der sowjetischen Presse mit keinem Wort erwähnt. Wie er davon berichtet, wischt sich General Nikolai Antoschkin verstohlen eine Träne aus dem Auge.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Moskowski Komsomolez.

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