Unter die (amerikanische) Lupe genommen: Wie steht es um das russische Bildungssystem?

Ein Schriftsteller und Lehrer aus den USA, der in Sankt Petersburg lebt, hat mit Dutzenden Russen über ihre Erfahrungen mit dem russischen Bildungssystem gesprochen und erklärt, wie er sich selbst als Lehrer in Russland fühlt.

Manchmal sind sie pubertär

Ich habe über die Jahre schon viele russische Schüler unterrichtet, innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers. In dieser Zeit habe ich eine Sache gelernt: Schüler sind auf der ganzen Welt gleich. Sie sind intelligent und lustig und arbeiten hart. Ja, manchmal verhalten sie sich sehr pubertär.

Als ich die Russen zum Thema Bildung befragte, stieß ich auf echte Besorgnis und viel Leidenschaft. Ich erwartete Anekdoten, Klagen und widersprüchliche Ideologien. Was dabei heraus kam, waren viele fundierte und konstruktive Bewertungen zu den Problemen des russischen Bildungssystems, die es wert sind, sich näher mit ihnen zu befassen.

Fokus auf Mathematik und Naturwissenschaften

Trotz einer der weltweit höchsten Alphabetisierungsraten von fast 100 Prozent (in den USA liegt diese bei etwa 86 Prozent) kritisieren einige Russen ihr Bildungssystem, weil es die Geisteswissenschaften vernachlässige.

„Unser Bildungssystem ist sehr auf exakte Wissenschaften ausgelegt. Physik, Biologie und Chemie werden getrennt unterrichtet. Das erklärt auch die große Zahl russischer Hacker oder Mathematiker”, erklärt die russische Schülerin Zoe.

„Sich mit den  Geisteswissenschaften zu befassen, gilt als verachtenswertes Schicksal derjenigen, die keine Begabung für Mathematik und Physik haben. Die technischen Fächer überwiegen, Geisteswissenschaften werden als notwendiges Übel betrachtet”, sagt Ulia, die 2015 Abitur gemacht hat.

Nicht jeder teilt diese Ansicht. Im Gespräch mit einem Biologielehrer einer Oberschule erklärte dieser, dass die Schüler in Geschichte besser seien als in Mathematik und Naturwissenschaften: „Viele Schüler haben nicht viel Ahnung von Biologie, Chemie oder Physik. Einige bereite ich auf Prüfungen vor, daher weiß ich das aus erster Hand. Es ist schwer zu sagen, worauf russische Schulen den Fokus legen. In der UdSSR konzentrierten sich die Schulen auf Mathematik und Geographie. Doch inzwischen ist die Lehrerschaft überaltert und überfordert mit Computern und dem Internet. In den Städten gibt es jedoch einige sehr gute Schulen”, meint der russische Biologielehrer Jewgeni.

Selber denken ist nicht erwünscht

Als ich in der High-School war, wurde kritisches Denken als ein wesentlicher Aspekt der Bildung gepriesen. Mir wurde beigebracht, alles zu hinterfragen und kritisch zu sein, jedoch nicht gegenüber meinen Lehrern, dem Lehrbuch, den Hausaufgaben, der Schule, den Eltern oder dem Schulleiter. Die kritisierten Autoritäten sollten möglichst weit weg oder bereits tot sein.

„Verglichen mit meinen Erfahrungen mit US-amerikanischen Universitäten, ich kenne einige Leute, die Studenten unterrichten, haben wir zu Themen wie Sozialkunde, Geschichte usw. fast nie Aufsätze geschrieben, in denen wir unsere Meinung darlegen sollten. In den USA ist das dagegen üblich. Bei uns heißt es eher: ‚Der Gelehrte hat dies und jenes geschrieben‘ oder wir fassen das Opus magnum effektiv zusammen oder wir schreiben, dass es zu diesem Problem zwei Ansätze gibt, erstens diesen und im Gegensatz dazu steht die Sichtweise… Sehr selten soll der Student seinen eigenen Standpunkt darlegen und mit Argumenten untermauern“, berichtet Nadja, die Anfang der 2000er in Russland studiert hat.

„Russische Bildung scheint nicht auf die persönliche oder berufliche Entwicklung eines Kindes ausgerichtet zu sein, sondern verfolgt das Ziel, den Schülern Fakten aus sowjetischen Lehrbüchern einzutrichtern. Das völlige Fehlen kritischen Denkens ist wahrscheinlich das offensichtlichste Problem im russischen Bildungssystem. Wir lernen, was wir denken sollen, nicht das Denken an sich. Das ist das Gegenteil von dem, was Bildung sein sollte”, meint Abiturientin Ulia.

Es gibt kaum Wahlmöglichkeiten

Russische Schüler und Studenten haben kaum Möglichkeiten, neue Themengebiete zu erarbeiten. In den russischen Oberschulen gibt es keine freie Fächerwahl. Es gibt einen starren Stundenplan mit täglich festgelegten Fächern. In einem Planer wird alles festgehalten, auch die Hausaufgaben… In den USA konnte ich meine Fächer nach Belieben wählen. Wichtig war nur, dass ich am Ende genügend Credits gesammelt hatte. Dieser Ansatz gefiel mir. Ich habe Mathematik und Physik gewählt, das mochte ich. So musste ich mich nicht durch Chemie, Biologie, Kunst oder andere Fächer quälen, die mich fürchterlich langweilten“, erzählt Ilja, der in den USA und Russland gelernt hat.  

Wie sind die russischen Lehrer?

„Ihre Haltung ist, dass der Lehrer immer Recht hat. Sie dürfen den Schüler einen Idioten, einen Schwachsinnigen oder einen unfähigen Niemand nennen, das ist gängige Praxis. Den Kindern wird gezeigt, dass die, die über ihnen stehen, sie wie Dreck behandeln können und sie können nichts dagegen tun. Natürlich gibt es auch großartige Lehrer, die eine echte Liebe zu Bildung und für Kinder haben, aber sie sind eher eine Ausnahme als die Norm. Bildung ist unsere Vergangenheit, Gegenwart und vor allem unsere Zukunft. Ein drastisches Umdenken ist nötig, fordert Ulia, die ihren Abschluss 2015 gemacht hat.

Unterbezahlte und unmotivierte Lehrer

Eine der häufigsten Bemerkungen, die ich gehört habe, trifft wohl auf viele Teile der Welt zu: Wenn wir Lehrer weiterhin unterdurchschnittliche Gehälter zahlen, werden zukünftige Generationen darunter leiden. „In Russland ist Unterrichten keine gut bezahlte Tätigkeit. Menschen, die viel Geld verdienen wollen, arbeiten nicht im Bildungswesen. Das bedeutet, dass dort nur solche sind, die ihre Arbeit wirklich lieben oder diejenigen, die andere quälen möchten. Leider halten es diejenigen, die gerne unterrichten, oft nicht lange an Schulen oder Hochschulen aus und geben enttäuscht auf”, kritisiert Daria, die ihr Abitur im Jahr 2007 gemacht hat.

Ich finde es beeindruckend, dass die Politik den Schulen finanzielle Mittel für eine bessere technische Ausstattung zur Verfügung stellt. Sie haben ein einfaches Prinzip der Bildung nicht verstanden. Ein guter Lehrer kann auch mit einem Zweig und einem Sandhaufen mehr vermitteln als ein schlechter Lehrer mit allen iPads dieser Welt. Ich gehöre zu den törichten Menschen, die überzeugt sind, dass Bildung der Schlüssel zur Lösung der Probleme dieser Welt ist. Deshalb müssen diese Gelder sinnvoller eingesetzt werden.  

>>> Sowjetisches Bildungssystem: Was ein Kind in der UdSSR lernen musste

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