In Jaroslawl entstand 2019 ein kalligrafischer Tunnel: Die Künstler Alexander Abrossimow und Jewgenij Fachrutdinow bemalten den Durchgang unter einem Wohnhaus mit Zeilen aus Gedichten Joseph Brodskys, wobei sie die russische Zierschrift Wjasj verwendeten. Das kalligrafische Kunstobjekt, das größte in der Stadt, hat gezeigt, dass diese russische Schrift nicht nur in der Dekoration orthodoxer Kirchen, sondern auch in der Street Art sehr natürlich aussieht.
Zu den Vorteilen dieser Zierschrift gehören ihre einfache Ausführung, ihre Verständlichkeit (im Vergleich zu komplizierteren Schriftarten wie der Schreibschrift) und die Ausgewogenheit zwischen der informativen und gestalterischen Funktion.
Wie das kyrillische Alphabet helfen kann, die russische Sprache zu beherrschen
In Russland sei вязь (Wjasj), die traditionelle Zierschrift, als erste Form des Schreib-, Lese- und Zählunterrichts (damals wurden Zahlen mit Buchstaben dargestellt) und als erste Stufe bei der Entwicklung aller Formen der russischen Schrift verwendet worden, erklärt Pjotr Tschobitko, der Gründer und künstlerische Leiter der St. Petersburger Schule für Kalligraphie Ot Asa do Ischizy (dt.: von Abis Z).
Auch Ausländer können vom Studium der russischen Schrift profitieren. Zu den Schülern von Tschobitkos Schule gehörten Bürger aus Kanada, Deutschland, Polen, Zypern, Finnland, Großbritannien, Israel, den USA, Lateinamerika und Australien.
„Einmal hatten wir eine Gruppe von Arabern, die Kalligraphie lernen wollten. Ich sagte ihnen: ,Es tut mir leid, aber ich kenne die arabische Schrift nichtʻ. Sie antworteten: „Das brauchst du nicht, du bringst uns deine Zierschrift bei. Eure Wjasj ist wie unser Kufi (Kufi ist eine der ältesten arabischen Schriften, die im späten 8. Jahrhundert entstanden ist und eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der arabischen Kalligrafie gespielt hat – Anm. Russia Beyond). Im Osten haben die klaren geometrischen Zeichenformen eine ähnliche strukturelle Grundlage wie unsere Schrift“, sagt Pjotr Tschobitko. „Außerdem gab es unter meinen Schülern viele Chinesen, die russische Kalligrafie studierten. Sie zeichneten sich durch eine ausgefallene Schrift aus und lernten dann ustáw und pólu-ustáw(andere kyrillische Schriftarten). Ihrer Meinung nach hat die russische Kalligrafie viel mit der chinesischen gemeinsam.“
Tschobitko glaubt, dass die russische Zierschrift einen eigenartigen Zugang zur Kunst der Kalligraphie im Allgemeinen bietet. Sie ist leicht verständlich, weshalb sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.
„Wenn ein Mensch beginnt, Wjasj zu verstehen, entdeckt er die Schönheit der russischen Sprache“, versichert er.
Die Ursprünge der Zierschrift
Die ornamentale Zierschrift Wjasj entstand in der Mitte des 11. Jahrhunderts in Byzanz, aber ihre Blütezeit erlebte sie in den slawischen Kulturen. Der Punkt ist, dass die Buchstaben des griechischen Alphabets das Potenzial des Schlüsselelements des Alphabets – die sogenannte Mastligatur (die Verbindung direkter Elemente der Buchstaben) – nicht vollständig offenbaren können. Das Kyrillische ist in dieser Hinsicht reichhaltiger, da es das gesamte griechische Alphabet übernommen und durch „autentische“ Buchstaben ergänzt hat, die die spezifischen Laute der alten slawischen Sprache bezeichnen. Für einen Kalligraphen sind Kyrillisch und Wjasj also ein „Wald“ aus Masten und 400-600 Ligaturen.
Bei den Südslawen stammen die ersten genau datierten Beispiele für die Verwendung der Wjasj aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Das älteste ist eine Siegesinschrift des Zaren Ioann Asen II. auf einer Marmorsäule in der Kirche der Vierzig Märtyrer in Tirnowo (Bulgarien, 1230).
Im 14. Jahrhundert wurde die südslawische Schrift reicher und interessanter als die byzantinische Schrift. Zunächst sei sie in den Urkunden zu finden gewesen – in den Namen und Titeln der bulgarischen und serbischen Könige, später in allen südslawischen Handschriften, sagt der russische Paläograph Wjatscheslaw Stschepkin. Der Untergang dieser Staaten brachte die Entwicklung der Schreibtechnik zum Stillstand, doch im 15. Jahrhundert entstand die rumänische Schrift auf der Grundlage der südslawischen Schrift. Dieser „Transit“ der Schrift fand offensichtlich in den Klöstern des Heiligen Berges Athos statt.
In Russland erschien die Wjasj Ende des 14. Jahrhunderts und hielt Einzug in Nowgorod, Pskow, Twer, Moskau sowie im Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster, das zu einem Zentrum der russischen Schrift wurde. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts war sie die am weitesten verbreitete Schrift in Russland geworden.
Doch dann veranlasste Peter I. 1708-1711 eine Reform des russischen Alphabets und führte eine säkuläre Schrift ein, die sich dem westlichen Stil annäherte. Seit dieser Zeit hat sich die Wjasj vor allem bei den Altgläubigen erhalten, die sich den staatlichen Neuerungen widersetzten.
Vom Tempel zur Werbung
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Wjasj zur Verzierung von Kirchenbüchern, Ikonen und Innenräumen von Kirchen verwendet. Eine Revolution in diesem Bereich bewirkte in den Jahren 1898-1927 der Verein Mir iskusstwa (dt.: Welt der Kunst), der sich zum Ziel setzte, den künstlerischen Wert der alten Schrift wiederzuentdecken.
„[Der russische Künstler und Buchillustrator] Iwan Bilibin begann, die Wjasj bei der Gestaltung von Büchern, Anzeigen und Plakaten zu verwenden. Der Künstler Michail Wrubel schafft interessante dekorative Effekte, die auf einer Kombination der Wjasj und Elementen des Jugendstils basieren. Parallel dazu verwendet Wiktor Wassnezow, der wichtigste Illustrator russischer Märchen, die Wjasj bei der Dekoration von Kathedralen und sogar bei der Gestaltung von Briefmarken“, erläutert Pjotr Tschobitko.
Er stellt fest, dass die Wjasj an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Grenzen der Kirche endgültig verlassen hatte, in der Typografie Einzug hielt und in der Buchgestaltung sowie im Kunsthandwerk verwendet wurde.
Pjotr Tschobitko und seine Schüler trugen zur Wiederbelebung der Kalligrafie in Russland im 21. Jahrhundert bei. Im Jahr 2008 waren sie an der Organisation der ersten internationalen Kalligrafie-Ausstellung in St. Petersburg beteiligt. Auf den folgenden Ausstellungen in Moskau, Nowgorod, St. Petersburg und Tallinn wurde der russischen Schrift und insbesondere der Kunst der Wjasj ein besonderer Platz eingeräumt: So hat sie ihre Popularität wiedergewonnen. Ihre Ornamentik, ihr besonderer Rhythmus und ihre Struktur inspirierten die Designer, und die Wjasj tauchte überall auf, von Verpackungen und Schmuck bis hin zur Dekoration der Innenräume von Privathäusern und öffentlichen Räumen.
Zur gleichen Zeit begannen auch Streat-Art- und Graffitikünstler, die Wjasj in ihren Werken zu verwenden.
Einige von ihnen, wie Pokras Lampas, versuchen, die westliche Frakturschrift und die russische Wjasj zu kombinieren, und zwar mit einem breiten Pinsel. So dient die Wjasj heute als eine Art Experimentiermaterial für die Kalligrafie.