Woher kommt die russische Sprache?

Alexander Kislov
In welcher Sprache kommunizierten die Vorfahren der heutigen Russen? Und könnten moderne Russen sie verstehen?

Der älteste Vorfahre der russischen Sprache ist das Proto-Indoeuropäische, der Vorgänger aller Sprachen der großen indoeuropäischen Familie (Romanisch, Germanisch, Slawisch, Baltisch, Keltisch, Indo-Iranisch, Griechisch, Albanisch, Armenisch usw.). Proto-Indoeuropäisch wurde von zahlreichen Stämmen und Völkern des prähistorischen Eurasiens von der Jungsteinzeit und frühen Bronzezeit bis zum ersten Jahrtausend v.u.Z. gesprochen.

Aus diesen alten Zeiten hat das Russische wie viele andere Sprachen dieser Familie ein flexibles System mit vielen grammatikalischen Kategorien (Fall, Geschlecht, Zahl, Person, Zeit, Handlungsrichtung und Konjugation der Verben), die Reihenfolge der Wörter in Phrasen und Sätzen und den ältesten Teil des Wortschatzes übernommen. Man muss nicht einmal Sprachwissenschaftler sein, um die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen diesen russischen und deutschen Wörtern zu erkennen: мать (matj –  Mutter), брат (brat –  Bruder), сын (syn –  Sohn), молоко (malakó –  Milch), ночь (notsch –  Nacht), солнце (sónze –  Sonne), борода (baradá –  Bart), соль (solj –  Salz), волк (wolk –  Wolf), вода (wadá –  Wasser), снег (snjeg –  Schnee), новый (nowyj –  neu).

Das Proto-Indoeuropäische kannte noch keine Schriftsprache. Wissenschaftler haben sich seit dem 19. Jahrhundert aktiv mit der Rekonstruktion dieser Sprache befasst und dabei einige Erfolge erzielt. Der ungefähre Klang des Proto-Indoeuropäischen ist in Ridley Scotts Blockbuster Prometheus (2012) zu hören, als der Androide David in dieser Sprache mit einem der riesigen Schöpfer kommuniziert:

Die von allen Slawen gesprochene Sprache

Natürlich sollten wir nicht denken, dass das Proto-Indoeuropäische eine kohärente und einheitliche Sprache war, im Gegenteil, es war ein Konglomerat von Dialekten, die sich über mehrere Jahrtausende aktiv entwickelt haben. Irgendwann stand der Stammdialekt aller slawischen Sprachen, das Proto-Slawische, den proto-germanischen und proto-baltischen Dialekten besonders nahe (besonders nah an den slawischen Sprachen ist also das heutige Litauisch), und löste sich dann von ihnen. Im ersten Jahrtausend v.u.Z. bis hin zum Frühmittelalter (6./7. Jahrhundert) sprachen die slawischen Stämme und Völker in der proto-slawischen Sprache und bis zum 12. Jahrhundert waren die slawischen Sprachen einander sehr nahe und gegenseitig verständlich.

Aus der Zeit des Proto-Slawischen hat die russische Sprache beispielsweise den Verbalaspekt (eine für alle slawischen Sprachen charakteristische Kategorie) sowie Tausende von gemeinsamen Wörtern und Wurzeln geerbt, die auch heute noch in allen slawischen Sprachen sehr ähnlich klingen: поле (pólje –  Feld), село (sjeló –  Dorf), небо (njéba – Himmel), свет (swjet – Licht), звезда (swesdá – Stern), конец (kanjéz – Ende), голова (galawá – Kopf), рука (ruká – Hand), пёс (pjos – Hund), конь (konj – Pferd), дерево (djérewo – Baum), пчела (ptschelá – Biene), медведь (mjedwjédj – Bär), рыба (rýba – Fisch), стоять (stajátj – stehen), говорить (gavarítj – sprechen), белый (bjélyj – weiß), тёплый (tjóplyj – warm) und viele andere mehr.

Ein Schriftsystem gab es im Proto-Slawischen ebenfalls nicht. Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich Sprachwissenschaftler mit der Wiederherstellung dieser Sprache und konnten einige Erfolge verbuchen. Die erste Schriftsprache der Slawen – das Altslawische – lieferte dabei große Dienste.

Können wir uns vorstellen, wie das Proto-Slawische klang? Ja, das können wir. Ein internationales Team unter der Leitung der kroatischen Produzentin Marina Cvetko dreht derzeit die TV-Serie Donau über die Geschehnisse auf dem Balkan im 6. Jahrhundert, in der diese Sprache von vielen der Filmfiguren gesprochen wird:

Altrussisch – die gemeinsame Sprache des historischen Russlands

Der nächste Vorfahre der russischen Sprache ist schließlich das Altrussische, eine gesprochene und säkulare Schriftsprache, in der die Vorfahren der Russen, Ukrainer und Belarussen kommunizierten. Man nimmt an, dass sie seit der Entstehung der russischen Identität und des ersten russischen Feudalstaates der Rurikiden im 10. Jahrhundert existiert hat, bis die Ländereien dieses Staates Ende des 15. Jahrhunderts zwischen Moskau, Nowgorod und Litauen aufgeteilt wurden.

In Westrussland (dem heutigen Belarus, der Ukraine und einem Teil der Russischen Föderation) war die russische Sprache bis zum Ende des 17. Jahrhunderts eine der offiziellen Staatssprachen, durchsetzt mit polnischen Lehnwörtern und Besonderheiten der lokalen Dialekte. Zwischen Moskau und Litauen bestanden rege kulturelle Kontakte, so dass man sagen kann, dass die späte altrussische Periode fast bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und den Sprachreformen von Peter dem Großen andauerte.

Seit dieser Zeit entwickelte sich die russische Sprache in ihrer annähernd modernen Form aktiv im ganzen Reich, während die ukrainische und belarussische Literatursprachen auf dem Gebiet des heutigen Belarus und der Ukraine im 19. Jahrhundert auftauchten. Diese „nicht-russischen“ Glottonyme fassten erst im 20. Jahrhundert endgültig Fuß.

Während der altrussischen Periode bildete sich schließlich die russische Grammatik und das phonetische System heraus, der ostslawische Wortschatz entstand: Wörter, die im Russischen, Ukrainischen und Belarussischen ungefähr gleich klingen: дядя (djádja – Onkel), усы (usý – Schnurrbart), лоб (lob – Stirn), сумка (súmka – Tasche), белка (bjélka – Eichhörnchen), коляска (kaljáska – Kinderwagen), кипятить (kipetítj – kochen), стучать (stuchátj – klopfen), usw.

Das Altrussische war zu dieser Zeit bereits eine Schriftsprache und hinterließ schon in frühester Zeit Tausende von Denkmälern: Urkunden, Randnotizen in Büchern, Inschriften, Graffiti, Fragmente in Altrussisch in Chroniken und andere Texte in Kirchenslawisch (Link zum Text über Kirchenslawisch).

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Obwohl die altrussische Sprache gut erforscht ist, ist sie in der modernen Kunst noch immer kaum vertreten. Sie können sie zum Beispiel auf dem berühmt Kanal Herrn Mikitkas Ecke hören:

Im sowjetischen und russischen Kino wird in Filmen mit historischen Themen traditionell modernes Russisch mit einigen altrussischen Vokabeln verwendet, wie in der berühmten sowjetischen Komödie Iwan Wassiljewitsch wechselt seinen Beruf:

Die modernen Russen sind sich der russischen Sprache, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts existierte, im Allgemeinen sehr wohl bewusst. Obwohl sich das Russische in den letzten 200 Jahren sicherlich enorm verändert hat, können wir mit Sicherheit sagen, dass es dieselbe Sprache ist, in der Dostojewski und Tolstoi geschrieben haben.

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