Selbst wenn Sie die russische Sprache perfekt beherrschen, werden Sie kaum etwas verstehen, wenn Sie einen Gottesdienst in einem Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) besuchen. Seit tausend Jahren werden hier sogar Fragmente aus dem Evangelium in einer sehr schönen, aber für das moderne russische Ohr fremd klingenden Sprache, in Kirchenslawisch, gelesen. Was ist das für eine Sprache und warum weigert sich die ROK kategorisch, sie aufzugeben?
Seit tausend Jahren hat das Kirchenslawische für die orthodoxen Slawen die gleiche Bedeutung wie Latein für die Katholiken. Es ist im Wesentlichen der Nachfolger des Altkirchenslawischen, der ersten slawischen Schriftsprache, die im neunten Jahrhundert von den Brüdern Konstantin (Kyrill) und Method und ihren Schülern (auf der Grundlage des alten bulgarischen Dialekts) geschaffen wurde. Trotz ihres südslawischen Charakters war die Sprache zu dieser Zeit auch für West- und Ostslawen verständlich. Die in der einheitlichen altslawischen Tradition abgefassten liturgischen Texte verwässerten jedoch allmählich und wurde mit Elementen jener slawischen Dialekte angereichert, die den Schreibern der Bücher eigen waren. Infolgedessen begannen sich im 10.-11. Jahrhundert lokale Versionen, so genannte изводы (iswódy, dt.: Fassungen) der kirchenslawischen Sprache herauszubilden (es gab zu verschiedenen historischen Perioden in der slawischen Welt ungefähr acht davon). Die heutige Form des Kirchenslawischen (auch Neukirchenslawisch und Synodalform genannt) entstand im 17. Jahrhundert durch die Synthese der Kiewer und der alten Moskauer Fassung.
Obwohl das moderne Kirchenslawisch dem Russischen in einigen systematischen Merkmalen näher steht als sein Vorläufer, das Altslawisch, ist es in erster Linie eine andere, ursprünglich südslawische Sprache, die zugleich ausschließlich schriftsprachlich und stark mit den religiösen Ritualen verbunden ist. Ohne besondere Vorbereitung (Lektüre liturgischer Literatur in russischer Übersetzung und/oder ein spezielles Studium) werden Sie sich kaum ohne Schwierigkeiten in kirchenslawischen Texten orientieren können.
Natürlich sprechen nur wenige orthodoxe Gläubige in Russland wirklich fließend Kirchenslawisch (für diejenigen, die dies wünschen, werden in den Kirchen kostenlose Sprachkurse angeboten). Dennoch verstehen die meisten Gottesdienstbesucher den Sinn dank der ständigen Wiederholung der Texte (es genügt, die russische wörtliche Übersetzung des Gottesdienstes mehrmals zu lesen und man prägt sich den Sinn des Gesagten ein). Außerdem wird in Kirchenslawisch nur der Text der Liturgie vorgetragen (und es werden auch Bücher veröffentlicht), während Predigten und Beichten von den Priestern in modernem Russisch abgehalten werden.
Wir können nicht behaupten, dass die Frage des Übergangs zum modernen Russisch in liturgischen Texten in kirchlichen Kreisen noch nicht aufgeworfen wurde. Die Initiatoren dieser Idee meinen, dass der Verzicht auf die unverständliche Sprache die ROK für die jüngere Generation attraktiver und populärer werden ließe. Als Argument wurde die Erfahrung der katholischen Kirche angeführt, die bereits im 20. Jahrhundert das Latein aufgegeben hatte und dazu übergegangen war, den Gottesdienst in den Landessprachen abzuhalten.
„Die Diskussion über die Sprache des Gottesdienstes in Russland hat eine lange Geschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Meinungen geäußert. Die Frage wurde auch auf der Landessynode von 1917/1918 erörtert, aber aufgrund der Revolution konnte die die Debatte nicht abgeschlossen werden“, erzählt Erzpriester Nikolai Balaschow, stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für außerkirchliche Beziehungen des Moskauer Patriarchats und Mitglied der Interkonziliären Versammlung der Russisch-Orthodoxen Kirche. Im Jahr 2011 wurde sogar eine soziologische Umfrage durchgeführt, aus der hervorging, dass etwa die Hälfte der russischen Gesellschaft der Meinung ist, die Liturgie müsse in das moderne Russisch übersetzt werden.
Gebetbuch in der kirchenslawischen Sprache.
Mikhail Tereshchenko/TASSKirchenvertreter sagen jedoch, dass die ROK nicht daran denke, diese ungebrochene, jahrtausendealte Tradition der Gottesdienste in Kirchenslawisch aufzugeben. Die ROK vertritt diese Auffassung, weil sie der Meinung ist, dass die Abkehr vom Kirchenslawischen mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringe. Bischof Sawwa (Tutunow) von Selenograd erklärte, dass „sich unser Volk an eine bestimmte Liturgie mit einer bestimmten Sprache gewöhnt hat. Und die Übersetzung der Gottesdienste in den russischen Kirchen ins moderne Russisch wäre eher ein antimissionarisches Element, das aller Wahrscheinlichkeit nach viele abschrecken würde.“
Im Laufe der tausendjährigen Praxis hat die Sprache des Gottesdienstes eine sakrale Bedeutung an sich erlangt, wobei das Klangbild eines kirchenslawischen Wortes viel mehr beinhaltet als seine direkte Übersetzung ins moderne Russisch.
„Bei der Übersetzung (ins moderne Russisch) können viele theologische Konzepte, die im Kirchenslawischen definiert und klar sind, schwer zu übertragen sein und der theologische Inhalt eines bestimmten Textes kann in der Übersetzung verloren gehen. Ein Wort, das in einer Sprache mit sehr klaren theologischen Konzepten verbunden ist, verliert bei der Übersetzung in eine andere Sprache (z. B. in das Alltagsrussisch) alle diese Verbindungen. Und das ist ein großes Problem: Wir verarmen in der Theologie und im Gottesdienst, wenn wir diesen Aspekt nicht berücksichtigen“, erläutert der Bischof abschließend.
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