Doppelt hält besser: Wurde die Rus gleich zweimal getauft?

Wiktor Wasnetsow
Es gibt nur wenige Zeugnisse von der Christianisierung der alten russischen Länder. Daraus ergeben sich mehr Fragen als Antworten.

„Die Geschichte vergangener Zeiten“, Russlands mittelalterliche Primärchronik, beschreibt ausführlich die Taufe der Rus durch Großfürst Wladimir (960 - 1015) und warum er den griechisch-orthodoxen Glauben dem Islam, dem Judentum und dem römischen Katholizismus vorgezogen hat.

Einer der bedeutendsten russischen Historiker der Epoche, Professor Wladimir Petruchin, merkt an, dass „nicht nur der genaue Zeitpunkt der Taufe des Großfürsten Wladimir unbekannt ist, sondern auch der Ort der Taufe. Das Schweigen der byzantinischen Quellen über die Taufe des russischen Landes scheint seltsam.“

Also, was wissen wir? Und warum haben die Byzantiner es vorgezogen, die Taufe von Großfürst Wladimir nicht zu erwähnen?

Mission des Photios I. von Konstantinopel (mutmaßlich)

Photios I.

Im Jahr 860 griffen die Russen Konstantinopel an. Ungefähr 8000 Soldaten auf 200 Schiffen erschienen scheinbar aus dem Nichts vor der Schwarzmeerküste und plünderten die Umgebung der Stadt. An der Eroberung scheiterten sie. Doch sie nahmen eine riesige Beute mit sich und ließen die Angst zurück. Der päpstliche Sitz bezeichnete den Angriff als „Strafe des Herrn für die Sünden der Bürger Konstantinopels“.

Photios I. (ca. 820-893), Patriarch von Konstantinopel, sandte eine Nachricht nach Rom, dass er Missionare in russische Länder senden wolle, um das Christentum zu verbreiten und die heidnischen Russen zu taufen. Durch die Taufe der herrschenden Elite versuchte Byzanz, die heidnischen Staaten in ihrem Einflussbereich zu konsolidieren und das Risiko militärischer Konflikte an den Grenzen zu verringern.

Zum Zeitpunkt und Ort dieser Mission finden sich keine genaueren Angaben. Manche Quellen besagen, dass die Kiewer Fürsten Askold und Dir mit einigen Bojaren und einer bestimmten Anzahl weiterer Menschen getauft wurden. Wenn dies der Fall gewesen ist, erklärt dies, warum die Taufe von 988 in byzantinischen Quellen nicht erwähnt wurde – die Russen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits als Christen wahrgenommen.

Taufe der Olga

„Taufe von Olga“ von Sergei Kirillow.

In den 940er Jahren griff Fürst Igor (878-945), Sohn von Rurik, erneut die Grenzen von Byzanz an - allerdings nicht sehr erfolgreich. 944 wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Bedeutsam ist, dass zu dieser Zeit so viele Christen unter den russischen Kriegern waren, dass sie ihre Friedensgelübde in einer Kirche in Konstantinopel ablegten, getrennt von den Heiden, die vor einem Bildnis des heidnischen Gottes Perun niederknieten.

Die erste russische Herrscherin, die offiziell christlich getauft wurde, war Fürstin Olga (920-969), die Witwe von Fürst Igor. Diese Taufe beruhte aber auch auf politischen Interessen. Byzanz brauchte die russischen Krieger, um gegen die arabischen Herrscher von Kreta kämpfen zu können. Als Gegenleistung für diese Hilfe stimmte Olga der Annahme des Christentums zu und wollte, dass Byzanz die Kiewer Rus als eigenständigen und unabhängigen christlichen Staat anerkennt. Quellen behaupten, dass sie um diese Zeit, Ende der 950er Jahre, auch Gesandte zu Kaiser Otto I. schickte und ihn bat, Priester und Geistliche zu entsenden, um das Christentum in der Kiewer Rus zu etablieren. Also spielte Olga mit der Rivalität zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Byzanz.

Inzwischen war das Christentum bereits seit dem 10. Jahrhundert in den russischen Ländern bekannt und wurde praktiziert. Zu den archäologischen Funden zählen Kreuze, byzantinische Münzen mit christlichen Symbolen und andere Artefakte.

Alte russische Körperkreuze.

Taufe von Wladimir dem Großen und Heirat mit der Tochter des Kaisers.

Fürst Wladimir war Fürstin Olgas Enkel. Sein Vater, Fürst Swjatoslaw (943-972), wollte nicht getauft werden. Er fürchtete den Spott anderer Herrscher. Fürst Swjatoslaw führte Kampagnen gegen das Byzantinische Reich an und wurde schließlich getötet. Bei einem so starken Gegner wie Byzanz hatten die Russen keine andere Wahl als echte Kooperation oder Niederlage. Viele Russen wurden nach dem orthodoxen Christentum getauft, um in den griechischen Ländern zu dienen, zu arbeiten und zu leben.

„Taufe der Russen“ von Wasilij Nawozow.

Wladimir, der nicht als Christ geboren wurde, praktizierte zunächst slawisches Heidentum als seine Religion. Aber Heiden wurden zu diesem Zeitpunkt bereits als „unzivilisiert“ betrachtet. Als Wladimir 986 einen Friedensvertrag mit dem muslimischen Staat Wolga Bulgarien (auf dem Territorium der heutigen Republik Tatarstan, Russland) unterzeichnete, argumentierten die bulgarischen Gesandten der Wolga, der Vertrag könne nicht geschlossen werden, weil Wladimir „die heiligen Schriften nicht kannte“ - tatsächlich war das Heidentum keine Religion, die auf Schriften basierte.

Als Gegenleistung für die Taufe Russlands forderte Wladimir jedoch die Hand von Anna Porphyrogenita (963-1011), der Tochter des byzantinischen Kaisers Romanos II. (der Olga getauft hatte). Ein heidnischer Fürst, der die Tochter des Kaisers heiratete, hätte bedeutet, dass das Byzantinische Reich Wladimir als gleichwertig anerkannte. Der Kaiser zögerte mit seiner Zustimmung.

Zu dieser Zeit versuchte Konstantinopel, den Aufstand von General Bardas Phokas dem Jüngeren (940-989) zu unterdrücken, und brauchte dazu die Hilfe der russischen Armee. Mitten im Konflikt nahm Wladimir Chersones, eine byzantinische Kolonie auf der Krim, ein und drohte, auch Konstantinopel anzugreifen. Unter diesen Bedingungen stimmte der Kaiser der Eheschließung mit Anna zu, und Wladimir begann mit der Christianisierung der Rus. Die Russen zogen sich aus Chersones zurück und übergaben es wieder an das Byzantinische Reich.

Bedeutsam war, dass, als Anna den russischen Fürsten heiratete, mit ihr Priester und Geistliche nach Kiew kamen, da der Aufbau einer neuen orthodoxen Kirche von ordinierten Priestern durchgeführt werden musste. Der Prozess der Christianisierung der russischen Länder war nicht einfach, und zwar nicht so sehr, weil die heidnischen Gläubigen sich der Bekehrung widersetzten, sondern mehr, weil die freien heidnischen Länder sich nicht der Kiewer Herrschaft unterwerfen wollten.

Bis zum 12. Jahrhundert praktizierten die meisten russischen Länder das Christentum. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Verbreitung der kyrillischen Schrift und der literarischen Tradition. Nach der Taufe Russlands erschienen die ersten Zeugnisse der alten russischen Schriftkultur. Es folgten weitere kulturelle Veränderungen - von der Einführung christlicher Feste (und der Fastenzeit) bis zu einer allmählichen Änderung der Bestattungsriten, darunter die heidnische Praxis der Einäscherung, die durch Erdbestattungen ersetzt wurde.

>>> Warum konvertieren russisch-orthodoxe Christen zu anderen Religionen?

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