An einem Januartag des Jahres 2017 ging der 38-jährige Webdesigner Jewgeni aus Gewohnheit zum Sonntagsgottesdienst in die Kirche. Am Eingang bekreuzigte er sich mechanisch, betrat die Kirche und drängelte sich durch die Menge griesgrämiger alter Frauen.
„Etwas in altslawischer Sprache wurde gesungen, es war ein Gemurmel zu hören und die Mütterchen schubsten mich. Dann sagte man mir, ich solle eine Kerze kaufen, und erklärte, wo ich sie aufzustellen habe“, erinnert sich Jewgeni an einen seiner letzten orthodoxen Gottesdienste. „Und dann begann der Pope unverblümt darüber zu reden, für wen man bei der Präsidentschaftswahl stimmen solle.“
Jewgeni stand in diesem Moment in der Menge und verstand überhaupt nicht, was er in der Kirche tat. Danach beschloss er, die orthodoxe Kirche zu verlassen.
Laut einer Umfrage des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung (WZIOM) von 2019 bekennen 63 % der Gläubigen in Russland sich zur Orthodoxie, die restlichen 37 % verteilen sich auf alle anderen Religionen und Konfessionen (Atheisten wurden in der Umfrage nicht berücksichtigt). Wie viele Menschen in Russland die Orthodoxie zugunsten anderer Religionen aufgegeben haben, darüber schweigen die Statistiken.
66 % der orthodoxen Christen wurden in ihrer Kindheit aufgrund der Entscheidung ihrer Eltern getauft, berichtet das WZIOM. Jewgeni war keine Ausnahme – nach seiner Taufe ging er seine gesamte Kindheit mit seinen Eltern zum Gottesdienst. Als er etwa 25 Jahre alt war, starb seine Schwester (er nennt die Todesursache nicht), ein weiteres Jahr später ließ er sich von seiner ersten Frau scheiden. Damals begann er, sich Fragen zu seinem Glauben zu stellen.
„Ich begann, durch Klöster und Kirche zu reisen und fragte mich, warum wir beten sollten, was der Gottesdienst bedeutet und was er uns eigentlich bringt. Warum sagt der Pope, wir sollen demütig sein und fasten, er selbst aber kleidet sich luxuriös? Die Antworten zeigten, dass meine Fragen ihm lästig waren – ,Geh beten!ʻ, ,Lies die Bibel!ʻ. Die Orthodoxie selbst begann, mich mit ihren Handlungen und ihrer Haltung abzustoßen“, erinnert sich Jewgeni.
Diese Haltung mag auf die hohe Arbeitsbelastung der Priester in den Pfarreien zurückzuführen sein. Die erklärte zumindest Metropolit Hilarion von Wolokolamsk in der Sendung Die Kirche und die Welt auf dem Fernsehkanal Russland-24. Seiner Meinung nach lasse die Arbeit nicht einmal Zeit, sich der Familie zu widmen.
Priestermönch Alexander Mitrofanow stimmt mit dem Metropoliten überein. „Der Pope kann auch durch Müdigkeit, Überlastung, Burnout, Zeitmangel oder einfach nur durch mangelndes Talent beeinträchtigt werden“, erklärt Mitrofanow.
Jewgenis Übergang von der Orthodoxie zum Katholizismus fand statt, als er mit seiner zweiten Frau und seinen beiden Kindern in eine neue Wohnung in der Nähe einer katholischen Kirche zog.
Weihnachtsfeier in der katholischen Kirche in Nowosibirsk.
Kirill Kukhmar/TASS„Meine Frau und ich gingen in die Kirche, um uns den Gottesdienst anzuschauen. Ich war überrascht, wie viele junge Menschen sich dort befanden. Und jeder wusste, wofür er betet, niemand schaute einen schief an. Diesen emotionalen Schwung, diese Einheit, die wir spürten, ohne am Gottesdienst selbst teilzunehmen, werde ich nie vergessen. Dann ging ich zum Priester, und er fragte mich, ob ich vor mir selbst weglaufe. Ich war hingerissen“, erinnert sich Jewgeni mit Freude.
Danach hielt er Jewgeni und seiner Frau einen Vortrag über die Entstehungsgeschichte der katholischen Kirche und gab dem Ehepaar Zeit, sich zu vergewissern, dass sie die richtige Wahl getroffen haben. Einen Monat später durchliefen Jewgeni und seine Frau die Prozedur und waren nun Katholiken.
Laut Jewgeni zieht ihn im Katholizismus vor allem die Offenheit und die Bereitschaft, Fragen zu beantworten, an: „Wir gewöhnen uns noch an die Feiertage, aber bei jedem Gottesdienst wird uns erklärt, was ein Feiertag heute ist, was er bedeutet und warum er wichtig ist. Zurückkehren zur Orthodoxie wollen wir nicht – es war ein klarer, überlegter Schritt“, schließt er.
Das Luciafest in der schwedisch-katholischen Kirche in Sankt Petersburg
Alexander Demyanchuk/TASSJuri Waschurin, 25-jähriger Lehrer für Chinesisch und Englisch aus Tscheljabinsk, wechselte im Alter von 19 Jahren von der Orthodoxie zum Buddhismus. Seine Mutter taufte ihn im Alter von drei Jahren, von zehn bis fünfzehn Jahren war er Messdiener. Schulfreunde hatte er keine – dafür war Juri zu bescheiden und verschlossen.
„Sie nahmen mich ständig mit in die Kirche, empfingen mit mir das Abendmahl, sagten mir, ich solle morgens und abends beten, fasten usw. Da Kinder meist unkritisch denken, habe ich das alles als etwas Notwendiges angesehen“, erinnert sich Juri.
Als Teenager begann er, sich über den „Autoritarismus der orthodoxen Kirche“ zu ärgern.
„Ich musste die Riten nur deshalb einhalten, weil die Popen es sagen und Gott der Herr es so will. Ich begann, über die Durchführbarkeit vieler Rituale und Gebote nachzudenken – mit der Zeit erschienen sie mir immer mehr als eitler Tand“, sinnt Waschurin nach.
Der buddhistische Tempel auf dem Berg Kachkanar in der Region Swerdlowsk
Donat Sorokin/TASSJuris Eltern begannen schließlich, sich von einer orthodoxen Sekte mitreißen zu lassen. „Sie warteten immer auf den Antichrist, der morgen kommen würde, und glaubten an freimaurerische Verschwörungen. Um das alles nicht selbst zu glauben, ging ich in die Fakultät für Orientalische Studien und begann, die chinesische Sprache und Kultur zu studieren. Dank dessen habe ich mich in Ostasien engagiert, und der Buddhismus hat dort immer eine sehr große Rolle gespielt“, erklärt Juri.
Ihn habe die „Unaufdringlichkeit“ dieser Religion und die geringere Bindung an heilige Texte angezogen. In Juris Heimatstadt gab es keinen buddhistischen Tempel, deshalb begann er, die heiligen Bücher der Buddhisten zu studieren und selbstständig zu meditieren.
„Mir hat sehr gefallen, dass ich nicht blind an das glauben muss, was der Buddha gesagt hat, sondern erst prüfen soll, ob es zu einem passt“, sagt Juri. „Zum Glück sind die Eltern keine Fanatiker mehr. Nur die örtlichen Popen hielten mich für einen Rebellen, aber es war, als ob mir die Ketten abgefallen waren. Mir wurde klar, dass ich ohne unangenehmen Druck zu leben begann und offener für die Welt wurde.“
Die Einweihung der höchsten Buddha-Statue Europas in Kalmückien
Sanji Obushiev/TASSBald wird Daria Chmelnjowa, die an der Musikhochschule am Lehrstuhl für Chorleitung studiert, 18 Jahre alt.
In sozialen Netzwerken kann man keine Party-Fotos von ihr finden. Eigentlich kann man sie überhaupt nicht sehen – sie lässt sich nur von hinten in Hijabs und Schals fotografieren. Zusammen mit ihr ist ein junger Mann auf dem Foto zu sehen, vermutlich ein Muslim. Auf seiner Seite im populären russischen sozialen Netzwerk VKontakte steht geschrieben, dass Eifersucht die Eigenschaft rechtschaffener Menschen sei. Auf ihrer eigenen Seite gibt es Beiträge von Communitys für Muslime und ein Bild mit dem Satz Korrigiere dich selbst. Die junge Frau konvertierte im vergangenen Jahr gegen den Willen ihrer Eltern von der Orthodoxie zum Islam.
„Sie ließen mich taufen, als ich etwa fünf Jahre alt war. Ich war damals sehr glücklich. Ich trug ein Kreuz, das aber bald in zwei Hälften zerbrach. Das muss ein Zeichen gewesen sein“, sagt Chmelnjowa.
Die Eltern kritisierten die Muslimen, weil ihre Religion zu streng sei, und Daria glaubte ihnen. Aber als sie 14 Jahre alt wurde, beschloss sie, zu überprüfen, ob ihre Eltern Recht hatten. Daria beschloss, als einzige aus der ganzen Klasse, einen Aufsatz über den Islam zu schreiben – sie wollte mehr über die – nach Meinung ihrer Eltern – „falsche“ Religion erfahren. „Ich habe diesen Aufsatz immer noch. Das erste, was mir auffiel und mich anzog, war, dass eine Frau im Islam keine Sklavin und Dienerin ist, wie viele denken mögen, sondern ein Schatz, den ihr Mann beschützt“, erinnert sich Daria.
Ihr Übertritt zum Islam dauerte drei Jahre. „Zuerst habe ich mich in sozialen Netzwerken mit Muslimen angefreundet. Dann habe ich den Namaz, das rituelle Gebet der Muslimen, erlernt. Ich suchte nach Schwestern, die mir helfen“, erinnert sie sich. Bald darauf ging Daria in die Moschee und wurde Muslima. Ob ihr Freund sie dazu gebracht hat, den Islam anzunehmen, möchte sie nicht sagen. Auch darüber, wie genau ihre Eltern und Schwestern reagierten, wollte Daria nicht reden. Allerdings sei der Übergangsprozess für die ganze Familie sehr schwierig gewesen – die Eltern haben das Mädchen nicht verstehen wollen. Daria berichtet auch, dass sie in den ersten Monaten Zweifel hatte, die richtige Wahl getroffen zu haben.
„Aber alle Zweifel verschwinden schnell, wenn ich den Koran lese“, erklärt sie.
Die Moskauer Kathedralmoschee
Komsomolskaya Pravda/Global Look PressLaut dem Priestermönch Alexander Mitrofanow konvertieren die Russen selten von der Orthodoxie zu anderen Religionen. „Ich kenne nur zwei. Der eine wechselte zu den Altgläubigen, der andere zuerst zu den Altgläubigen und dann zum Islam. Aber in diesen Situationen hing es meiner Meinung nach nicht mit der Sinnsuche zusammen, sondern einfach mit der allgemeinen Schwäche dieser konkreten Menschen“, ist der Priestermönch sich sicher.
Er argumentiert, dass die Situation in Russland eher umgekehrt sei – viel mehr Menschen aus anderen Religionen oder Sekten konvertierten zur Orthodoxie. „Ja, manchmal kommt es vor, dass eine Person, ohne die Orthodoxie richtig verstanden zu haben, sich von ihr abwendet. Aber wenn eine Person die Orthodoxie richtig kennen gelernt hat, versteht sie in der Regel, dass das eine Liebe für das ganze Leben ist“, fasst Mitrofanow zusammen.
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