2017 drehte der berühmte russische Regisseur Alexej Utschitel den Film Matilda, der den zukünftigen Zaren Nikolaus II. als leichtsinnigen jungen Mann zeigt, der eine frivole Affäre mit der Ballerina Mathilda Kschessinskaja hat. Damals waren viele Gläubige tief beleidigt und die glaubwürdige historische Episode wurde von ihnen als Affront gegen das Andenken des im Jahr 2000 heiliggesprochenen Zaren empfunden.
Russisch-orthodoxe Aktivisten organisierten vor den Kinos Mahnwachen gegen den Film und führten Prozessionen mit Ikonen der Zarenfamilie durch. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) befindet sich in einer schwierigen Situation: Einerseits war Zar Nikolaus II. in der Tat eine historische Figur der jüngeren Geschichte, der nichts Menschliches fremd war, und verdiente es durchaus, ein Held des russischen Kinos zu werden, andererseits wurde er heiliggesprochen und seine Ikonen werden in den Kirchen Russlands angebetet. Nach reiflicher Überlegung unterstützten die offiziellen Vertreter der ROK den Skandal nicht. Tichon Schewkunow, ein einflussreicher russisch-orthodoxer Bischof, Vorsitzender des Patriarchalrats für Kultur und Mitglied des Obersten Kirchenrats der Russischen Föderation, forderte die Gläubigen auf, den Streifen dem Genre des Fantasy-Films zuzuordnen.
Eine Mahnwachen gegen den Film Matilda vor der Premiere im Oktjabr-Kinozentrum in Moskau.
Ekaterina Chesnokova/SputnikMit einem derart kontroversen und unkonventionellen Thema war die ROK bisher noch nicht konfrontiert worden. Der Zar wurde als Märtyrer und nicht wegen seiner geistlichen Verdienste heiliggesprochen, was bedeuten würde, dass sein sterbliches Leiden das Maß an zutiefst menschlichen Verfehlungen überwiegt. Diese Ansicht wurde jedoch nicht einmal vom Klerus der ROK übernommen, geschweige denn von der russischen Gesellschaft, die zu einem großen Teil der Meinung war, dass Nikolaus II. die Schuld am Niedergang des Landes trug.
Zar Nikolaus II. dankte am 2. März 1917 während der Februarrevolution (die der Oktoberrevolution vorausging, bei der die Bolschewiki die Macht übernahmen) ab. Nach seiner Abdankung lebte er fast sechs Monate lang unter Arrest in seiner Residenz in Zarskoje Selo, wurde dann mit seiner Familie nach Tobolsk in Sibirien verbannt und anschließend nach Jekaterinburg verbracht. Dort wurde er in der Nacht des 17. Juli 1918 zusammen mit seiner Frau, seinen fünf Kindern, dem Koch, dem Hausarzt, der Kammerzofe der Zarin und dem Kammerdiener des Zaren von den Bolschewiken erschossen.
Der ehemalige Zar in Zarkoje Selo nach seiner Abdankung im Jahr 1917.
Legion MediaUnmittelbar nach Nikolausʻ Tod kam unter den Gläubigen das Thema Heiligsprechung auf. Für die russisch-orthodoxen Christen war der Zar der Gesalbte Gottes und eine derart brutale Ermordung, die sogar Kinder betraf, wurde vom Volk als Märtyrertod empfunden. Für Nikolaus und dessen Familie wurden in Kirchen im ganzen Land Trauerliturgien abgehalten und Patriarch Tichon selbst segnete die Priester, die die Gedenkgottesdienste abhalten sollten, und hielt eine inbrünstige Rede über die „geistlichen Verdienste“ des Zaren.
„Wir wissen, dass er bei seiner Abdankung das Wohl Russlands im Sinn hatte und aus Liebe zu diesem Land abdankte. Er hätte nach seinem Thronverzicht ein sicheres und relativ friedliches Leben im Ausland führen können, aber er hat dies nicht getan, weil er mit Russland leiden wollte“, sagte Tichon.
Der ehemalige Zar Nikolaus II. und seine Kinder sitzen auf dem Dach eines Gewächshauses während ihrer Gefangenschaft in Tobolsk.
Legion MediaTrotz der religionsfeindlichen Politik des sowjetischen Staates verehrten die Gläubigen in Russland noch viele Jahre lang das Andenken des Zaren. Russische Monarchisten, die nach der Revolution aus dem Land geflohen waren, verehrten den Zaren jedoch mit besonderem Eifer. Unter ihnen entbrannte eine hitzige Debatte über eine mögliche Heiligsprechung.
Nach langen Debatten sprach die Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA) 1981 den Zaren Nikolaus II., dessen Frau, Kinder und sogar den katholischen Diener Alois Trupp und die lutheranische Hauslehrerin Katharina Schneider heilig.
Seit Ende der Achtzigerjahre wurde im Zuge der Perestroika und der Wiederbelebung der Russisch-orthodoxen Kirche in Russland selbst über die Heiligsprechung von Nikolaus II. und dessen Familienmitgliedern diskutiert. Von 1992 bis 1997 wägte die dafür zuständige Synodalkommission der Russisch-Orthodoxen Kirche die Gründe für die Heiligsprechung der Zarenfamilie ab.
Nikolaus II. mit seiner Familie, 1913.
Legion MediaDie Kommission prüfte sorgfältig die Argumente, die gegen eine Heiligsprechung sprachen, von denen es viele gab:
Erstens sahen viele in der Abdankung des „Gesalbten Gottes“ ein kirchliches Verbrechen: Er überließ seine „Herde“ der Gnade des Schicksals und löste damit einen blutigen Bürgerkrieg aus, der Russland fast ruinierte. Die Kommission brachte jedoch ein Gegenargument vor: „Er hatte damals Angst, dass seine Weigerung, die Abdankung zu unterzeichnen, angesichts des Feindes zu einem Bürgerkrieg führen könnte. Der Zar wollte nicht, dass seinetwegen ein Tropfen russischen Blutes vergossen wird“, so Metropolit Juvenali, Leiter der Kommission, in seinem Abschlussbericht.
Die Kathedrale auf dem Blut in Jekaterinburg.
Vyacheslav Bukharov (CC BY-SA 4.0)Zweitens verwiesen die Gegner der Heiligsprechung auf das antiklerikale Verhältnis der Zarenfamilie zu Grigori Rasputin. Dieser half auf mystische Weise, die Blutungen des an Hämophilie erkrankten Zarewitschs Alexej zu stoppen und vermochte die Hysterie der Zarin zu lindern.
Drittens war ein wichtiges Argument vor der Entscheidung zur Heiligsprechung das Fehlen von Wundern im Zusammenhang mit der Zarenfamilie und deren Gebeinen. In den Neunzigerjahren begannen jedoch verschiedene kirchliche Einrichtungen, Berichte über Wunder, Heilungen und andere „gnadenreiche Hilfe“ durch Gebete zu den Märtyrern der Zarenfamilie zu erhalten.
Gleichzeitig legte die Kommission die Argumente der Befürworter einer Heiligsprechung dar:
Erstens waren da die zahlreichen Appelle der Gläubigen zur Unterstützung der Heiligsprechung, die von mehreren Tausend Personen, sowohl Geistlichen als auch Laien, unterzeichnet wurden.
Zweitens wurde die tiefe Frömmigkeit der Zarenfamilie und insbesondere der Zarin (einer deutschen Prinzessin, die für ihren Ehemann zum russisch-orthodoxen Glauben konvertiert war) als Argument FÜR eine Heiligsprechung angesehen. Denn das unterschied sie von der restlichen Aristokratie Russlands, die sich bereits weitgehend von der Kirche abgewandt hatte. „Die Erziehung der Kinder der Zarenfamilie war von einem religiösen Geist geprägt.“ Es wurde auch die rechtschaffene Lebensweise der Zarin und die Tatsache angesprochen, dass „die Briefe von Alexandra Fjodorowna die Tiefe ihrer religiösen Gefühle offenbaren – wie viel Kraft des Geistes, Trauer über das Schicksal Russlands, Glaube und Hoffnung auf Gottes Hilfe sie enthalten.“ Darüber hinaus kümmerten sich die Zarin und deren Töchter während des Ersten Weltkriegs um die Verwundeten.
Kirche der Heiligen Königlichen Passionsträger in Ganina Jama bei Jekaterinburg.
Evgisel (CC BY-SA 4.0)Drittens schenkte Nikolaus II. nach Angaben der Russisch-orthodoxen Kirche den Bedürfnissen der Kirche große Aufmerksamkeit, spendete großzügig für den Bau von Kirchen und Klöstern und veranlasste die Heiligsprechung vieler heute verehrter Heiliger, darunter Seraphim von Sarow.
Viele waren der Meinung, dass der Tod von Nikolaus II. und den Mitgliedern seiner Familie nicht als Märtyrertod für Christus anerkannt werden könne. Es ist jedoch erwiesen, dass das Zarenpaar während seines letzten Lebensabschnitts im Gefängnis viel im Evangelium las und trotz der Beschimpfungen und Beleidigungen durch die Bolschewiken ein frommes und bescheidenes Leben führte. In diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen, die Familie als „heilige Märtyrer“ zu kanonisieren, die „in Nachahmung Christi mit Geduld körperliche und moralische Leiden und den Tod durch politische Gegner ertragen haben“.
„In Anbetracht dieses Verdienstes der Zarenfamilie“ beschloss die Kommission die Heiligsprechung einstimmig. Am 20. August 2000 fand in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau die Lobpreisung der neuen Märtyrer und Glaubensbekenner des russischen 20. Jahrhunderts statt, darunter der gesamten Zarenfamilie. Zar Nikolaus II., Zarin Alexandra, Zarewitsch Alexej, die Großfürstinnen Olga, Tatjana, Maria und Anastasia wurden als „Märtyrer“ heiliggesprochen.
Wie Juvenali in seinem Abschlussbericht feststellte, „ist die Heiligsprechung des Monarchen in keiner Weise mit der monarchistischen Ideologie verbunden und bedeutet nicht die ,Heiligsprechung‘ der monarchischen Regierungsform“.
Im Keller des Ipatjew-Hauses, in dem die Romanow-Familie ermordet wurde.
Public Domain„Die Position der Kirche war hier ganz klar: Nicht die Weise der Herrschaft von Nikolaus II. wurde heiliggesprochen, sondern die Weise seines Todes, wenn man so will, seines Ausscheidens aus der politischen Arena“, sagte der bekannte Theologe und Diakon Andrej Kurajew in einem Interview. „Schließlich hatte er allen Grund, verbittert und wütend zu sein, in den letzten Monaten seines Lebens während des Arrests vor Wut zu kochen und alles und jeden zu beschuldigten. Aber nichts von alledem ist passiert.“
Kurajew glaubt auch, dass diese große Geste für die Kirche eine Art Resümee des schrecklichen zwanzigsten Jahrhunderts für das Christentum bedeutete.
Umbettung der Überreste der Zarenfamilie in der Peter-Paul-Kathedrale der Peter-Paul-Festung in St. Petersburg.
Alexander Chumichev, Alexander Sentsov/TASSEin wichtiges Motiv für die Heiligsprechung war auch die Versöhnung der russischen Priesterschaft in Russland und im Ausland. In den Neunzigerjahren stellte sich die Frage nach der Vereinigung der Russisch-orthodoxen Kirche im Ausland und der Russisch-orthodoxen Kirche in Russland unter der Ägide des Moskauer Patriarchats. Für die Auslandskirche war die Heiligkeit der Zarenfamilie bereits ein unerschütterliches Dogma und daher wurde, wie Desnizkij schreibt, „die Anerkennung der Heiligkeit der Zarenfamilie von den Hierarchen der Russisch-Orthodoxen im Ausland als eine notwendige Bedingung für die Versöhnung mit der Russisch-Orthodoxen Kirche in Russland bezeichnet.“
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!