Die russische Sprache war im Laufe ihrer Geschichte zwei großen Reformen unterworfen. Die erste Reform wurde im 18. Jahrhundert von Zar Peter dem Großen durchgeführt, der die alte kirchenslawische Schrift durch ein neues, weltliches Alphabet ersetzte. Die zweite Reform erfolgte 1917 durch die Bolschewiki. Obwohl einige Reformer in beiden Fällen über einen Wechsel zum lateinischen Alphabet nachdachten, kam es nicht dazu.
Die Latinisierung der russischen Sprache hatte nach der Oktoberrevolution von 1917 hohe Priorität. Schließlich passte der Plan, zu einem neuen Alphabet überzugehen, gut zu den Ambitionen von Wladimir Lenin und Leo Trotzki, während der bevorstehenden Weltrevolution eine neue universelle proletarische Kultur zu schaffen und zu verbreiten. Laut Anatoli Lunatscharski, Volkskommissar für Bildung der UdSSR, sollte die Verwendung des lateinischen Alphabets das Erlernen der russischen Sprache für „Proletarier aller Länder“ erleichtern: „Die Notwendigkeit oder das Bewusstsein für die Notwendigkeit, das absurde vorrevolutionäre Alphabet, das mit allen möglichen historischen Überbleibseln belastet ist, abzuschaffen, ist bei allen mehr oder weniger kultivierten Menschen entstanden.“
Lenin in seinem Arbeitszimmer im Kreml, 1918.
Petr Otsup/SputnikObwohl Lenin mit Lunatscharski übereinstimmte, hatte er es nicht eilig, zum lateinischen Alphabet überzugehen: „Wenn wir die Einführung eines neuen Alphabets überstürzen oder sofort die lateinische Schrift einführen, die sicherlich an die unsere angepasst werden muss, bringen wir uns in eine Lage, aus der heraus wir leicht Fehler begehen können, die dann wiederum kritisiert werden, indem man von Barbarei und dergleichen spricht. Ich zweifle nicht daran, dass die Zeit für die Latinisierung der russischen Sprache kommen wird, aber jetzt übereilt zu handeln, wäre unklug“, antwortete Lenin in seinem persönlichen Briefwechsel mit Lunatscharski.
Nichtsdestotrotz führte das Volkskommissariat für Bildung unter Lunatscharski eine umfassende Reform der russischen Sprache durch. Das vorrevolutionäre russische Alphabet wurde von einer Reihe „unnötiger“ Buchstaben befreit. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Bolschewiki bei ihrer Sprachreform auf Projekte zurückgriffen, die unter Nikolaus II. an der Zaristischen Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1904, 1912 und 1917 entwickelt worden waren.
Die kommunistische Führung und die ihr gegenüber loyalen Linguisten gaben die Idee der Latinisierung jedoch nicht auf.
Die Sowjets waren bestrebt, im Zentrum des Landes und auf lokaler Ebene möglichst viele Anhänger zu gewinnen, und versuchten daher mit allen Mitteln, den verschiedenen Völkern der UdSSR zu zeigen, dass sie bereit waren, ihnen ein Höchstmaß an Freiheit zu gewähren – bis hin zur Wahl des Alphabets, mit dem sie in ihrer Muttersprache schreiben wollten. Das russische Alphabet galt als schlecht angepasst „an die Augen- und Handbewegungen des modernen Menschen“ und wurde als „Relikt des Klassensystems der russischen Feudalherren und der Bourgeoisie des 18. und 19. Jahrhunderts“ sowie als „Ausdruck autokratischer Unterdrückung, missionarischer Propaganda und großrussischen Nationalchauvinismus“ bezeichnet. Zunächst sollten die orthodoxen nicht-slawischen Völker des ehemaligen Reiches, die bereits eine kyrillische Schrifttradition besaßen (z. B. Komi und Karelier), vom russischen Alphabet befreit werden. Der „Zarismus“ und die christlich-orthodoxe Religion spiele eine „führende Rolle bei der Russifizierung und nationalen Unterdrückung“ und „der Übergang zum lateinischen Alphabet“ werde „die arbeitenden Massen endlich von jeglichem Einfluss der nationalen Bourgeoisie sowie von den religiösen Einflüssen der vor der Revolution gedruckten Bücher befreien“, hieß es auf einer Sitzung der Kommission für die Latinisierung. Gleichzeitig planten die Behörden den Übergang zur Latinisierung für alle Muslime in der UdSSR, die noch die arabische Schrift verwendeten. Ziel war es, die „Koran-Alphabetisierung“ sowie „die Folgen der religiösen islamischen Erziehung“ zu beseitigen. Außerdem war geplant, auch andere Sprachen, die über eine eigene Schrift verfügten, wie zum Beispiel Georgisch, Armenisch, Kalmückisch und Burjatisch, in den Transformationsprozess einzubeziehen.
Kasaner Kreml.
Frank Whitson FetterIn kürzester Zeit wurden für Dutzende von ungebildeten oder unzureichend gebildeten Völkern der UdSSR einheitliche lateinische Alphabete geschaffen, die schnell und konsequent in der Praxis eingeführt wurden: Öffentliche Dokumente, Zeitschriften und der Buchdruck wurden auf die neuen Alphabete umgestellt. Zu Beginn der Dreißigerjahre hatte das lateinische Alphabet die arabische Schrift bei allen muslimischen Völkern der UdSSR vollständig verdrängt, ebenso wie viele kyrillische Alphabete der nicht-slawischen Völker und die traditionelle Schrift der mongolischstämmigen Bevölkerung (Kalmücken und Burjaten). Die Beseitigung des Analphabetismus und die Einführung der obligatorischen Grundschulbildung für die Bevölkerung der UdSSR binnen kurzer Zeit können als positive Ergebnisse der unternommenen Anstrengungen angesehen werden. Doch schon bald änderte sich die Situation dramatisch.
Josef Stalin.
SputnikWährend er in der kommunistischen Partei an Einfluss gewann und allmählich die gesamte politische Macht an sich zog, entwickelte Josef Stalin seine eigenen Vorstellungen von der Entwicklung des Sowjetstaates. Stalins Vision unterschied sich sowohl von den Ansichten des Revolutionsführers Lenin als auch von denen seiner späteren „linken“ Gegner Leo Trotzki, Lew Kamenjew und Grigori Sinowjew. Seit Anfang der Dreißigerjahre kam es in der UdSSR allmählich zu einer teilweisen Revision verschiedener Phänomene, Normen und sozialer Beziehungen, die im vorrevolutionären Russland eingeführt worden waren. Mit der Zeit wurden viele der durch die Revolution eingeführten Neuerungen zu „linken Abweichungen“ und „trotzkistischen Tendenzen“ erklärt. Außerdem diktierte die damalige globale Krise ihre eigenen Bedürfnisse. So mussten die kolossalen Kosten für den Nachdruck des alten Kulturerbes und die laufenden Reformen gesenkt werden.
Nikolai Jakowlew (1892-1974) - russischer Sprachwissenschaftler.
Archive photoIm Januar 1930 bereitete die Kommission für Latinisierung unter der Leitung von Professor Nikolai Jakowlew drei endgültige Projektentwürfe für die Latinisierung der russischen Sprache vor, die in der Zeit von Lunatscharski (1917-1929) als „unvermeidlich“ galt. Das von Stalin geleitete Politbüro lehnte die Pläne jedoch ab und verbot die weitere Verwendung von Ressourcen und Geld für diese Projekte. Diese Entscheidung kam für viele unerwartet. In den folgenden Jahren betonte Stalin in mehreren öffentlichen Reden, wie wichtig das Erlernen der russischen Sprache für den weiteren Aufbau des Sozialismus in der UdSSR sei. Ab 1936 wurden die latinisierten Sprachen der UdSSR weitgehend ins Kyrillische überführt, um die gesprochenen Sprachen der Völker der UdSSR der russischen Sprache anzunähern. Im Gegenzug wurden die lateinischen Alphabete als „nicht mehr zeitgemäß“ und sogar als „schädlich“ bezeichnet. Die vielfältige sprachliche Autonomie, die in den Anfängen der UdSSR blühte, wurde rasch abgeschafft und machte der russischen Sprache Platz, die „in ihren Rechten wiederhergestellt“ wurde. Am 13. März 1938 erließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Bolschewiki eine neue Resolution „über das obligatorische Studium der russischen Sprache in den Schulen der nationalen Republiken und Regionen“. Gemäß dieser Resolution wurde die russische Sprache zur Hauptsprache in der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) erklärt und erhielt in den Unionsrepubliken der UdSSR offiziellen Status. Vertreter der nicht-russischen sowjetischen Intelligenz, die sich der Kyrillisierung und der Stärkung der Rolle der russischen Sprache widersetzten, wurden unterdrückt.
Die Hervorhebung des russischen Volkes und seiner Sprache begann erst in den Dreißigerjahren unter Stalin an Fahrt zu gewinnen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Bedeutung der russischen Sprache für alle sowjetischen Bürger unbestreitbar.
Wiktor Winogradow.
Oleg Makarov/SputnikNach Kriegsende erschien das berühmte Buch des Akademikers Wiktor Winogradow „Die große russische Sprache“, in dem der Autor im Tonfall der vorrevolutionären zaristischen Publizisten Folgendes schrieb: „Die Größe und Kraft der russischen Sprache ist allgemein anerkannt. Diese Anerkennung ist tief in das Bewusstsein aller Völker, ja der ganzen Menschheit eingedrungen.“ In den späten Vierzigerjahren erlangte die russische Sprache eine neue, noch nie dagewesene Stellung auf der Weltbühne und wurde zu einer der wichtigsten gesprochenen Sprachen innerhalb der Vereinten Nationen und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie zu einer Pflichtsprache in Schulen und Universitäten aller sozialistischen Länder.
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