Die Reform der russischen Orthografie war bereits vor der Revolution geplant, aber die Russische Akademie der Wissenschaften hatte es nicht eilig, sie umzusetzen. Nach der Revolution von 1917 handelten die neuen Behörden dafür umso entschlossener: Alles „Alte“ sollte aufgeben werden – das Regime, die Religion, die Wirtschaft … und auch die Rechtschreibung.
Im Jahr 1918 wurde ein Dekret über die neue Rechtschreibung erlassen und alle gedruckten Publikationen hatten dieses zu berücksichtigen.
Die vorrevolutionäre Rechtschreibung war recht kompliziert und die Bolschewiki wollten eine Sprachreform, um das Lernen zu vereinfachen. Eine der Hauptaufgaben war die Bekämpfung des Analphabetismus. Vor der Revolution konnten nach verschiedenen Schätzungen nur etwa 40 % der russischen Bevölkerung lesen und schreiben. Aber die von Wladimir Lenin proklamierte neue herrschende Klasse – die Arbeiter und Bauern – musste in allen Bereichen eine aktive Rolle übernehmen, so dass die Behörden die gesamte Bevölkerung im Alter von acht bis 50 Jahren verpflichteten, Lesen und Schreiben zu lernen.
Die Volkszählung von 1926 zeigte, dass in der kurzen Zeit nach der Revolution bereits rund 50 Prozent der Schreibunkundigen auf dem Land alphabetisiert worden waren.
Vor der Revolution bestand das russische Alphabet aus 35 Buchstaben und es gab kein einheitliches Regelwerk für die Rechtschreibung, lediglich die unter Peter I. verordnete Zivilschrift. Der Zar hatte versucht, die Macht der Kirche einzuschränken, und deshalb eine vereinfachte Schreibweise für die Verwaltung, säkulare Dokumente und die ersten Zeitungen eingeführt.
Die Bolschewiki entfernten einige Buchstaben, vor allem solche, die faktisch ein und demselben Laut entsprachen. Im nachrevolutionären Alphabet gab es nun nur noch 32 Buchstaben, später wurde der Buchstabe Ё (Jo) als eigenständiger Buchstabe bestätigt, so dass es nun 33 sind. Dieses Alphabet ist auch heute noch in Gebrauch.
Der Erlass zur Einführung der neuen Rechtschreibung:
1) Streichung des Buchstabens Ѣ (Jat) und Ersatz durch den Buchstaben E, z.B. колѣно → колено (Knie), вѣра → вера (Glaube), въ избѣ → в избе (in der Hütte).
2) Streichung des Buchstabens Ѳ (Fita) und Ersatz durch den Buchstaben Ф, z.B. Ѳома → Фома (Thomas), ариѳметика→ арифметика, (Arithmetik), каѳедра → кафедра (Katheder).
3) Streichung des Buchstabens Ъ (Jer) am Ende von Wörtern, da er sich dort nicht auf die Aussprache auswirkte und man sich bis dahin merken musste, wann er geschrieben werden musste und wann nicht. Darüber hinaus wurden durch den Verzicht dieses Buchstabens gedruckte Texte bis zu vier Prozent kürzer. Der Linguist Lew Uspenskij berechnete, dass dadurch 8,5 Millionen Seiten pro Jahr weniger gedruckt werden mussten.
Das Ъ blieb jedoch bei einigen Wörtern zwischen Silben als Trennzeichen („Härtezeichnen“) erhalten, z.B. съемка (Aufnahme), разъяснить (erklären), адъютант (Adjutant).
4) Streichung des Buchstabens I und Ersatz durch den Buchstaben И, zum Beispiel ученіе → учение (Lehre), Россія → Россия (Russland). Diese Regel führte später zu einigen Schwierigkeiten, da in handschriftlichen Texten bei einer Kombination der Buchstaben И und Ш diese nicht mehr richtig von einander unterschieden werden können.
5) Die Verwendung des Buchstabens Ё (Jo) wird als wünschenswert angesehen, ist aber nicht obligatorisch.
Interessanterweise erwähnte das Dekret einen weiteren Buchstaben des alten Alphabets nicht – das Ѵ (Ischiza), denn dieser Buchstabe wurde ohnehin fast nur in religiösen Texten verwendet und konnte ohne Mühe durch das gleichlautende И ersetzt werden.
So wurde auch die Schreibweise von Präfixen angepasst, die auf З enden: из- (aus-), воз- (auf-), раз- (auseinander-), без- (ohne-), через- (durch-) wurden nun unterschiedlich geschrieben, je nachdem, welcher Buchstabe folgte. Vor Vokalen und stimmhaften Konsonanten wurde weiterhin З (stimmhaftes S), vor stimmlosen Konsonanten musste nun aber ein C (stimmloses S), geschrieben werden. Der Präfix C blieb davon unberührt.
Auch die Suffixe der deklinierten Wörter wurden in einigen Fällen angepasst:
Die neue Schreibweise wurde von der „weißen“ Emigration abgelehnt – die Menschen, die das Land nach der Revolution verlassen hatten, glaubten, dass die Bolschewiki die russische Sprache entstellt hätten. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Druckerzeugnisse der Emigranten im Ausland im alten Stil herausgegeben. Die Auswanderer späterer Jahre waren bereits mit den neuen Regeln aufgewachsen und verwendeten die neue Orthografie.
Es gab auch Schwierigkeiten mit der bereits alphabetisierten Bevölkerung, die zum Teil weiterhin an der alten Rechtschreibung festhielt und umgeschult werden musste. Auch die Lehrerinnen und Lehrer mussten sich erst an die neuen Regeln gewöhnen.
Eine der größten Schwierigkeiten war jedoch die „Übersetzung“ der klassischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. So litten unter den neuen Regeln für die Suffixe einige Reime in der Poesie.
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