Deutsche und Russen: Ein komplementäres Verhältnis

Vorurteile hindern Russen und Deutsche daran, politische Ereignisse von einem gemeinsamen Standpunkt aus zu bewerten.

Vorurteile hindern Russen und Deutsche daran, politische Ereignisse von einem gemeinsamen Standpunkt aus zu bewerten.

AP
Wenn auch das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland auf offizieller Ebene derzeit angespannt ist: Austausch findet weiter statt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Stiftung Russkij Mir haben den aktuellen Beziehungsstatus auf einer gemeinsamen Konferenz analysiert.

Wie sehen sich Deutsche und Russen gegenseitig? Und vor allem: Warum ist das so? Diese Fragen diskutierten Vertreter der russischen Stiftung Russkij Mir (zu Deutsch: „Russische Welt“) und der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung auf einer gemeinsamen Konferenz. Russkij-Mir-Vorsitzender Wjatscheslaw Nikonow erklärte gleich zu Beginn die historischen Ursprünge der Unterschiede.

Die jeweilige Rezeption des Anderen sei stets auch die Wahrnehmung des Andersartigen. Die von beiden Völkern im zehnten Jahrhundert getroffene zivilisatorische Wahl sei die Ursache vieler Differenzen: Die Rus entschied sich für die Orthodoxie, die deutsche Nation wählte den Katholizismus. „Seitdem schauen die Deutschen nach Russland wie in einen Spiegel. Was sie darin sehen, ist ein ‚Nein, so sind wir nicht‘“, sagte Nikonow.

Tatjana Timofeewa, Geschichtsprofessorin an der Moskauer Staatlichen Universität, bescheinigte den Russen ein vergleichbares Verhalten. Mit dem russischen Sprichwort „Was dem Russen ein Wohl, ist dem Deutschen ein Weh“ brachte sie ein Identitätsmerkmal der russischen Nation auf den Punkt: Die nationale Selbstwahrnehmung der Russen entstand mit und durch die Abgrenzung vom Deutschtum.

Von Peter I. bis Napoleon

Timofeewa betonte auch die Bedeutung zweier großer Einwanderungswellen von Deutschen nach Russland. „Während sich in Europa konfessionelle Konflikte zuspitzten, erklärte Zar Peter I. als Erster in Europa in seinem Land die Religionsfreiheit und schuf eine stabile juristische Grundlage für das Leben von Ausländern in Russland.“ Doch das Bewusstsein des russischen Volkes widerstrebte dem Fremden und Neuen. Daher würden Germanophilie wie Germanophobie in Russland einer gemeinsamen Wurzel entspringen: Akzeptanz oder Ablehnung der europäischen Lebensweise.

Katharina II. setzte den Kurs von Peter I. fort. Eines ihrer ersten persönlich nach dem Machtantritt ausgearbeiteten Dokumente war das Manifest von 1762. Massen von Deutschen diente es als Einladung, nach Russland umzusiedeln. Der Sieg über Napoleon romantisierte Klischees: Einfache, landverbundene Menschen waren die damaligen Russen in der Vorstellung der Deutschen. Im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich in Russland wie in Deutschland die Idee der eigenen Ausschließlichkeit durch. Und damit habe die gegenseitige Abschottung eingesetzt, so Timofeewa.

Neubeginn und Partnerschaft

Schreckliche Kriege teilten Russland und Deutschland im vergangenen Jahrhundert. Hinter der Kollision beider Mächte verberge sich eine Kulturkatastrophe, deren Folgen nur langsam verblassten, meint Tatjana Timofeewa. „Doch Führer kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt“, erinnerte Wjatscheslaw Nikonow an die viel zitierte Position der sowjetischen Staatsführung nach dem Zweiten Weltkrieg. „Für diesen Standpunkt sind wir Russland sehr dankbar. Das war eine ausgestreckte Hand“, bemerkte Jörg Morré, Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zerfall der Sowjetunion versuchten Russen und Deutsche ein neues Beziehungsformat aufzubauen. „Innerhalb von 25 Jahren sind viele Unternehmenskontakte entstanden, Deutschland wurde zu einem der wichtigsten Partner Russlands“, betonte Wladimir Kotschin, der geschäftsführende Direktor der Stiftung Russkij Mir.

Zahlreiche Konferenzteilnehmer betonten, die gegenwärtigen Beziehungen Russlands und Deutschlands steckten in einer der schwierigsten Phasen der vergangenen Jahrzehnte. „Den gegenseitigen Umgang, die Wahrnehmung vom jeweils anderen zu verändern, ist sehr schwierig. Doch dank den Minsker Abkommen haben wir heute wieder einen Grund zur Hoffnung“, erklärte Rüdiger von Fritsch, Botschafter der Bundesrepublik in Russland, und appellierte daran, den in Minsk begonnenen konstruktiven Dialog unter allen Umständen fortzusetzen.

Die Konferenzteilnehmer aus Deutschland und Russland zogen eine ähnliche Bilanz: Vorurteile hindern Russen und Deutsche daran, politische Ereignisse von einem gemeinsamen Standpunkt aus zu bewerten. Doch die positiven historischen Erfahrungen geben Anlass zur Hoffnung, dass die Widersprüche eines Tages überwunden sein werden.

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