Pfarrer Manfred Brockmann / Алексей Постернак
Ich habe mich immer für Fragen interessiert, die mit unserer Gesellschaft verbunden sind. Von Anfang an spürte ich eine Berufung. Ich war nie vollends zufrieden mit dem, was unsere Gesellschaft und die Welt zu bieten haben. Deshalb kann man sagen, dass ich nicht aus Liebe zu Gott zur Religion kam, sondern weil ich die Gesellschaft nicht allzu sehr mag.
Anfangs wollte ich Lehrer werden, es gefiel mir, mit Jugendlichen zu arbeiten. Ich studierte an der Universität, wo es Fächer gab, die mit Religion zu tun hatten. Nach einem Jahr Studium wurde ich zum Bund eingezogen. Das war in Westdeutschland. Dort kam ich in die Gesellschaft einfältiger, grober, primitiver Menschen. Der Wehrdienst ist kein Spaß. Dort habe ich gesehen, wie wenig Menschen es gibt, die mit der Kirche etwas zu tun haben. Also dachte ich mir: Wenn es jemanden gibt, der in der Lage ist, Menschen über Kirche und Glauben zu erzählen, dann müsste er doch hier sein und kämpfen?
Ich wechselte zur Theologie, drei Jahre habe ich studiert. Nach dem Staatsexamen, bekam ich eine Hiwi-Stelle an der Uni, ein Professor hat mich als seine Hilfskraft ausgesucht. Parallel lernte ich Sprachen und befasste mich mit Philosophie. So kam ich dann dazu, Pastor zu werden.
Eine Zeit lang, vor meiner Reise nach Russland, arbeitete ich in Hamburg, wo ich geheiratet und zwei Töchter bekommen habe, wo ich zwei Gemeinden hatte und viel mit Kindern und Jugendlichen arbeitete. Da passierte mir eine lustige Geschichte:
Ich war schon immer ein entschiedener Gegner der Kernkraft. Wir hatten sogar einen kleinen Freundschaftsklub aus Theologen. Und in unseren Predigten haben wir oftmals das Kernkraftwerk nördlich von Hamburg erwähnt. Einmal bin ich mit einem Freund zum Zeichen des Protests auf das Kernkraftwerk geklettert. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war das natürlich eine Straftat. Also hat man einen Gerichtsprozess gegen mich eingeleitet, aber die Mitarbeiter der Kirche sagten mir bei persönlichen Treffen, dass ich ein sehr mutiger Mensch sei.
Das war im Jahr 1986. Am 26. April kam es zum GAU in Tschernobyl. Und letzlich hat mich diese Katastrophe gerettet. In Deutschland wurde die Stimmung gegen Kernkraft sehr stark, deshalb hatte niemand den Mut, mir öffentlich einen Prozess zu machen.
Die evangelische Pauluskirche in Wladiwostok / Andshel/Wikipedia
Nach einer Weile bekam eine einmalige Chance: Ich konnte ein Jahr lang weiter mein Gehalt bekommen, aber gleichzeitig um die Welt reisen. Weil ich größtenteils ein Abenteurer bin, wollte ich etwas Interessantes und Ungewöhnliches erleben. Erst wollte ich nach Südafrika, bekam aber kein Visum.
Und in Russland war ja gerade Perestroika, das Land wurde geöffnet und ich war schon immer ein Fan. Russland – das ist ein riesiger Raum, seine Taiga... Das ist ein so geheimnisvolles Land, da ja niemand so recht wusste, was da hinter dem Eisernen Vorhang eigentlich passiert.
Ich wurde zu einer fünftägigen Synode der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche im westsibirischen Omsk eingeladen. Dort haben wir gehört, dass 7 000 Kilometer von Omsk entfernt, in Wladiwostok, eine alte lutherische Kirche steht und in der Stadt selbst 800 Deutsche leben, hauptsächlich Lutheraner. Im Primorski Krai gab es damals rund 4 000 Russlanddeutsche.
Bei der Synode wurde die Frage diskutiert, wer in diese Region fahren will. Schon damals, im Mai 1992 war Wladiwostok eine offene Stadt. Mich hat diese Idee gereizt und der Bischof gab mir seinen Segen für die Reise.
Meine Aufgabe bestand darin, nach Wladiwostok zu kommen, die Kirche zu finden und die Lutheraner. Die Kirche zu finden, war sehr einfach – mit den Menschen war es viel komplizierter. Vielleicht hatte sie damals trotz Perestroika und Glasnost immer noch Angst?
Also dachte ich mir: Ich bin jetzt mal ganz schlau und gehe zum KGB. Es hätte ja sein können, dass sie eine Liste von Dissidenten haben. Aber sie haben mir nichts gegeben. Eine Gemeinde konnte ich dann aber doch noch finden – in Tschegdomyn, einer Ortschaft viele Kilometer nördlich von Wladiwostok, wo deportierte Russlanddeutsche lebten.
Dann hatte ich Glück: Eines Tages ging ich zu einem klassischen Konzert in Wladiwostok, wo ich einen Mann gesehen habe, der das Hemd eines Geistlichen trug. Das war ein katholischer Priester, der US-Amerikaner Daniel Mauer. Er war zwei Wochen vor mir nach Wladiwostok gekommen und hat schon einige Bekanntschaften gemacht.
Er gab mir die Adressen zweier Lutheraner, die ich dann besuchte. Sie freuten sich, dass sie endlich einen lutherischen Pastor haben, und erzählten es Bekannten weiter. Danach feierten wir den ersten Gottesdienst in der neuen Geschichte unserer Kirche, registrierten eine Gemeinde und alles wurde sehr gut.
Bald darauf musste ich aber nach Deutschland zurück, zu meiner Gemeinde in Hamburg. Ich schrieb dem damaligen Erzbischof in Sankt Petersburg, dass sich eine neue lutherische Gemeinde gebildet hatte, die floriert und sich entwickelt und einen Pastor braucht. Er antwortete mir: Wenn die Gemeinde in ihrer Anwesenheit derart floriert, dann sollten sie vielleicht auch dort bleiben? Vielleicht ist das Schicksal?
So hat sich das ergeben, dass ich seit 25 Jahren schon in Wladiwostok lebe und zu einem echten fernöstlichen Patrioten geworden bin.
Ich mochte die Stadt von Anfang an: Wladiwostok ist sehr schön – das ist aber weniger der Verdienst der Stadtverwaltung als vielmehr der Natur. Hier gibt es eine schöne Umgebung aus Bergen und Meer. Interessant ist auch die Architektur der Stadt, denn Wladiwostok ist ja mit großer Hilfe der Deutschen gebaut worden. Sie waren zwar russische Bürger, aber von ihrer Nationalität her Deutsche.
Der Kapitän der legendären „Mandschu“ zum Beispiel – jenes Schiffs, mit dem die Stadtgründer nach Wladiwostok gekommen waren – hieß Alexander Schäffner. Es gibt eine Straße in der Stadt, die nach ihm benannt wird. Überhaupt gab es in der Geschichte Wladiwostoks viele Deutsche: Die einen kamen aus dem Baltikum (damals noch Russisches Kaiserreich), andere kamen aus Deutschland, wie zum Beispiel die Kaufleute Kunst und Albers.
Diese Deutschen haben die Stadtgeschichte beeinflusst, haben Häuser entworfen und gebaut, die das Auge des Betrachters bis heute durch ihre Schönheit erfreuen. Vielleicht ist Wladiwostok deshalb deutschen Städten so ähnlich.
Ich bereue es überhaupt nicht, hierhin gekommen zu sein. Wir haben eine schöne, interessante Stadt. Die Brücke zu meiner Heimat reiße ich auch nicht ein, ich verfolge täglich die Nachrichten aus Deutschland. Ich schreibe häufig, telefoniere und mehrmals im Jahr besuche ich meine Verwandten. Meine Kinder und Enkelkinder kommen auch oft zu mir.
Ich habe einen Traum: Ich wünsche mir mehr Zeit, um Musik zu komponieren. Ich bin Komponist, die Leidenschaft zur Musik habe ich seit meiner Kindheit, mein erstes Werk schrieb ich mit zehn. Leider muss ich mich viel zu viel mit blöden Fragen beschäftigen: „Menschen, Geld, Geld, Menschen“. Es gibt fast niemanden, der hierhin möchte. Und die Menschen verlassen uns.Ich suche jetzt einen Nachfolger für die Kirche.
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