"In Woronesch habe ich überhaupt zum ersten Mal ein kritisches Verhältnis zu bestimmten Dingen in der sowjetischen Geschichte kennengelernt", sagt Braungardt.
Inna HartwichBraungardt: Ich bin auf eine Schule gegangen, an der es ab der dritten Klasse Russischunterricht gab. In der siebten Klasse habe ich beschlossen, in der Sowjetunion zu studieren. Solche Studienplätze wurden zentral verteilt, und so bekam ich einen im Fach Ökonomie der Energiewirtschaft angeboten. Das klang für mich irgendwie artverwandt. In dem Jahr, in dem wir dann Abitur gemacht haben – das war auch das Jahr der Vorbereitung auf das Auslandsstudium – habe ich mir gesagt: “Ich will das eigentlich nicht”. Ich habe nachgedacht und wollte das machen, was mich immer interessiert hat: Sprache und Literatur. So hat es sich ergeben, dass ich ein Jahr in Rostow am Don Slawistik studiert habe und dann nach Woronesch gewechselt bin. Da kam ich zum Lehrstuhl für Sowjetliteratur und war die einzige ausländische Studentin in meiner Seminargruppe.
Auf unserer Schule hatten wir Muttersprachler als Lehrer. Mein Russisch hat sich also schon damals ganz gut angehört. Manche Dozenten in Woronesch haben sogar erst bei der Prüfung erfahren, dass ich aus der DDR stamme, weil in meinem Studienbuch kein Vatersname angegeben war.
Mein erstes Buch bekam ich als Geschenk zu Weihnachten in der 8. Klasse. Meine Mutter schenkte mir kühnerweise Tolstois “Krieg und Frieden”. Ich habe versucht, den Roman mit einem Wörterbuch zu lesen. Als aber die französischen Stellen kamen, habe ich aufgegeben. Ein Jahr später habe ich Gorkis “Kindheit” gelesen. Das war das erste Buch, das ich wirklich auf Russisch gelesen habe.
Studiert habe ich ja nicht nur am Lehrstuhl für Sowjetliteratur, es war ein Studium der russischen Sprache und Literatur, umfasste also das gesamte Spektrum der russischen und internationalen Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Die meisten Dozenten waren sehr engagiert und schafften es, ihr Interesse für die Literatur an uns weiterzugeben. Am Lehrstuhl für Sowjetliteratur, die ich als Spezialfach gewählt hatte, beschäftigte ich mich besonders mit der aktuellen Literatur, ich besuchte einen wissenschaftlichen Studentenzirkel, in dem über Neuerscheinungen der Literaturzeitschriften diskutiert wurden. Meine Diplomarbeit habe ich über den Klassiker der sowjetischen Literatur Juri Trifonow geschrieben.
Eine Tutorin hatte ich am Lehrstuhl für Sowjetliteratur, die dann meine Diplomarbeit betreute. Das Zurechtfinden im russischen Bildungssystem war uns mehr oder weniger selbst überlassen, das ergab sich im Grunde von selbst. Ich hatte den Vorteil, die einzige Ausländerin in meiner Seminargruppe zu sein, da war Integration gar keine Frage, ich gehörte einfach dazu.
Mich hat verblüfft, dass dort relativ offen mit dem Stalinismus umgegangen wurde. Bei uns gab es einen Professor, er hieß Anatoli Abramow, der den Lehrstuhl für sowjetische Literatur geleitet und sehr freimütige Vorlesungen gehalten hat. Es wurde über die Zwiespaltigkeit der sowjetischen Literatur gesprochen. Da habe ich überhaupt zum ersten Mal ein kritisches Verhältnis zu bestimmten Dingen in der sowjetischen Geschichte kennengelernt.
Nach dem Studium habe ich in einem der größten DDR-Verlage – Volk und Welt – gearbeitet. Eines Tages gab mir Thomas Reschke, der als Redakteur bei uns in der Abteilung arbeitete und sehr viele russische Autoren übersetzt hat, eine Probeübersetzung. Kurz danach bekam ich mein erstes Übersetzungsangebot, das ich dann neben meiner Arbeit im Verlag gemacht habe.
Sergej Kaledins “Stiller Friedhof”. Das war relativ schwierig, weil dort sehr viel Slang vorkommt. Aber ich hatte ja einen prallen Wortschatz aus dem Studentenwohnheim in Woronesch mitgebracht.
Ich habe sehr viele Einsichten in den Alltag und das politische Leben der 1970er-Jahre in der Sowjetunion bekommen, die in der Literatur, die ich übersetze, eine große Rolle spielen. All das hätte ich in einem Studium in der DDR sicher nicht so erfahren.
Ulizkaja und ich kennen uns seit 1993 und sind uns einfach schon sehr nahe gekommen. Ich mag ihre Ironie, ihre Art zu erzählen. Und bei Alexijewitsch ist mir das Thema aus historischer Sicht sehr wichtig.
Nein, überhaupt nicht. Gemeinsames finde ich höchstens im historischen Hintergrund, vor dem die beiden schreiben. Es ist die sowjetische Geschichte.
Das richtet sich danach, was ich angeboten bekomme. Ich kann mir gar nicht leisten, etwas abzulehnen. Wenn ich keine prinzipielle Einwände dagegen habe, mache ich das.
Erstens lesen Frauen mehr als Männer. Und zweitens wird bei Daschkowa sehr viel über den Wandel nach der Perestroika erzählt: warum vieles in Russland so ist, wie es ist, woher die Verstrickung zwischen Kriminalität und Politik stammt.
Sachar Prilepin. Da wurde ich speziell angesprochen und habe es abgelehnt.
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