Im Frühjahr 1890 fand eine schicksalhafte Begegnung statt, die noch 120 Jahre danach zu vielen kontroversen Diskussionen führen sollte: Die russische Zarenfamilie besuchte eine Vorstellung der berühmten Königlichen Ballettschule in Sankt Petersburg.
Dort stellte Zar Alexander III. persönlich eine der Schülerinnen, Matilda Kschessinskaja, seinem Sohn Nikolaus vor, dessen spätere Abdankung das Ende der Romanow-Dynastie bedeuten sollte. Die Absicht von Alexander III. bestand wohl darin, seinen Sprössling mit einer kleinen unschuldigen Liebesaffäre zu unterhalten und dessen moralische Entwicklung zu fördern.
“Innerhalb der Zarenfamilie war es üblich, dass ledige Thronfolger und deren Brüder Schauspielerinnen und Balletttänzerinnen treffen durften, um vor der Eheschließung eine gewisse sexuelle Erfahrung zu sammeln“, erklärt Wladislaw Aksjonow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Russische Geschichte.
Thronfolger Nikolaus jedoch konnte seine anfängliche Verliebtheit selbst dann nicht verdrängen, als er kurze Zeit nach der ersten Bekanntschaft mit Kschessinskaja auf eine einjährige Reise Richtung Osten aufbrach. Im Gegenteil, die zunächst vorhandene Sympathie verwandelte sich schnell in eine Leidenschaft.
“Kleine K.”
Ganze zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung unternahm der Thronfolger einen Versuch, die Beziehung zur Ballerina wieder zu beleben. Er sendete einen Vertrauten zu Kschessinskaja und forderte sie auf, ihm ein Foto mit ihr zurückzuschicken. Matilda freute sich darüber, dass Nikolaus sie trotz der langen Trennung nicht vergessen hatte und wurde sich anscheinend im Klaren darüber, dass auch sie eine Zuneigung zum zukünftigen Herrscher empfand.
“Ich kann gar nicht richtig beschreiben wie ich mich fühlte als ich nach Hause kam. Ich konnte nichts essen und rannte in mein Zimmer. Ich weinte und mein Herz pochte stark. Zum ersten Mal spürte ich, dass es nicht einfach eine Verliebtheit war, als welche ich das bislang betrachtet hatte, sondern dass ich den Kronprinzen tief und innig liebte und ich ihn niemals würde vergessen können“, schrieb Kschessinskaja in ihr Tagebuch, nachdem sich die beiden schließlich im Januar 1892 im Theater wiederbegegnet waren.
Auch des Kronprinzen Gedanken drehten sich fortan nur noch um Matilda. Seine Tagebuchaufzeichnungen des Winters 1892-1893 sind voll von kurzen aber entzückenden Berichten über seine regelmäßigen Treffen, in denen Nikolaus die Kschessinskaja liebevoll als “Kleine K.” bezeichnete.
Die Liebe eroberte schnell die Herzen der beiden jungen Menschen und Nikolaus forderte Kschessinskaja auf, vom Haus ihrer Eltern in ein neues Apartment, das er für sie erworben hatte, umzuziehen. Nach anfänglichen Protesten des Vaters der Ballerina gab dieser schließlich klein bei und Kschessinskaja zog an einen Ort, an dem sie den künftigen Zaren ungestört treffen konnte.
Ein uneheliches Kind
“Montag, 25. Januar 1893. Am Abend ging ich zu meiner M.K. und verbrachte den bislang schönsten Abend mit ihr. Ich bin total fasziniert – der Stift zittert in meiner Hand”, kritzelte Nikolaus nach einem dieser Treffen in sein Tagebuch. Dieser Eintrag gab später Anlass zu der Spekulation über ein uneheliches Kind der beiden, das, wenn wahr, der einzige Nachfahre des letzten russischen Kaisers sein würde, der die Revolution überlebte.
In der Tat gab es in der Familie Kschessinskij ein Neugeborenes, allerdings erst viel später, im Jahre 1911. Und es war das Kind von Kschessinskajas Bruder Joseph.
Dieses Kind, Celina, verblieb nach der Revolution in Russland und gebar einen Jungen, der später ein erfolgreicher Politiker, der sich um den Posten des Bürgermeisters von Sankt Petersburg bewarb, werden sollte. Celinas Enkel, Konstantin Sevenard, hingegen, versucht gegenwärtig, die russische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es einen direkten Nachfolger des russischen Zaren gibt, nämlich ihn.
Konstantin Sevenard behauptet, dass das seinerzeit neugeborene Kind von Nikolaus und Matilda stamme und dass es von Matildas Bruder nur adoptiert worden sei, um dieses Familiengeheimnis zu hüten, da der Zar zu dieser Zeit bereits verheiratet gewesen sei.
“Wenn Matilda tatsächlich ein Kind von Nikolaus II. zur Welt gebracht hat, hätten der Zar und das Gericht davon gewusst. Matilda war eine sehr ambitionierte Frau die wusste was sie wollte und die ihre Kontakte stets effizient genutzt hat. Wenn sie eine solche Trumpfkarte in der Hand gehabt hätte, wie die Mutter eines Kindes des Zaren zu sein, hätte sie diese ohne Zweifel unter Hinnahme aller möglichen Konsequenzen ausgespielt“, sagt der Historiker Aksjonow.
Geschichtswissenschaftler bescheinigen Nikolaus II. ein vorbildlicher Familienvater gewesen zu sein, wovon auch seine Tagebücher zeugen. Einzige Ausnahme ist vielleicht folgender Absatz: “Ich beobachte an mir ein sehr komisches Phänomen. Ich habe nie gedacht, dass zwei identische Gefühle, zwei Lieben zur gleichen Zeit, in einer Seele vereint sein können.”