Alte Wunden aufgerissen: Russische Schüler sprechen im Bundestag über Stalingrad und ernten Empörung

Beitrag der deutsch-russischen Schülerprojektgruppe, Nikolaj Desjatnitschenko (rechts)

Beitrag der deutsch-russischen Schülerprojektgruppe, Nikolaj Desjatnitschenko (rechts)

Deutscher Bundestag
Ein deutsch-russisches Schülerprojekt hat einmal mehr gezeigt, dass die Betrachtung der Schlacht um Stalingrad und damit des gesamten Zweiten Weltkrieges heute, 75 Jahre später, noch immer ein schmerzhaftes Thema ist. Auf allen Seiten der Front.

Stalingrad - das war der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, das waren Hunderttausende Tote auf beiden Seiten, das war pure und endgültige Vernichtung. Ein deutsch-russisches Schüleraustauschprojekt im Rahmen der Deutsch-Russischen Städtepartnerschaften und mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) hat sich diesem Thema nun über die persönlichen Schicksale von Soldaten auf beiden Seiten der Front nähern wollen. Jeweils drei Gymnasiasten aus dem russischen Nowyj Urengoj und dem deutschen Kassel sprachen dann am vergangenen Sonntag zum Volkstrauertag vor dem Deutschen Bundestag über ihre Eindrücke und Erkenntnisse. Der Volkstrauertag und der Auftritt der Schüler in Berlin fiel dieses Jahr auch mit dem 75. Jahrestag des Befehls zur „Operation Uranus“ zusammen, der sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad, die die Einkesselung der deutschen Truppen sowie deren rumänischer und italienischer Verbündeter zum Ziel hatte.

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Während die deutschen Schüler über die Schicksale zweier russischer Soldaten, Iwan Gusew und Nadja Truwanowa, sprachen, thematisierten die russischen Schüler die dreier deutscher Militärs - Georg Johann Rau, Julius Dietrich and Julius Fogt. Im Mittelpunkt des Projekts und auch der Schülerreden standen ganz private Schicksale einzelner Menschen, die in die sogenannte „Hölle von Stalingrad“ geraten waren.

Einer der sechs Sprecher, Nikolaj Desjatnitschenko, sprach über Georg Johann Rau - und empörte mit seiner Rede zahlreiche Vertreter der russischen Gesellschaft. Im Internet rollte eine Welle der Kritik auf den Jungen zu. 

Auszug aus Nikolajs Rede:

„Georg war einer der 250.000 deutschen Soldaten, die von der sowjetischen Armee im Kessel von Stalingrad eingekreist wurden. Nach dem Ende der Kämpfe kam er in ein Kriegsgefangenenlager. Nur 6000 Kriegsgefangene kehrten von dort später nach Hause zurück. Georg war nicht darunter“, so Nikolajs Worte vor der deutschen Politprominenz und Presse. Er sprach auf Russisch. „Lange Zeit dachten die Angehörigen des ums Leben gekommenen Soldaten noch, er werde noch vermisst. Erst im vergangenen Jahr bekam nun Georgs Familie eine offizielle Bestätigung des Deutschen Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge, dass er aufgrund der harten Bedingungen in Gefangenschaft am 17. März 1943 im Kriegsgefangenenlager Beketowka ums Leben kam. Möglicherweise wurde er mit den anderen 2006 Soldaten in der Nähe des Lagers begraben.“

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„Georgs Geschichte und die Arbeit an unserem Projekt haben mich sehr berührt und dazu gebracht, auch die Gräber der Wehrmachtssoldaten in der Nähe der Stadt Kopejsk zu besuchen. Dort hat es hat mich sehr betroffen gemacht, die Gräber unschuldig gestorbener Menschen zu sehen, von denen viele friedlich leben und nicht kämpfen wollten.“

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„Sie haben zu Kriegszeiten so viele Schwierigkeiten erlebt, von denen mir auch noch mein Uropa erzählte, der damals selbst im Krieg war. Er allerdings kämpfte nicht lange, weil er bald schwer verwundet wurde. Otto von Bismarck sagte einmal: ‚Jeder, der einmal einem auf dem Schlachtfeld sterbenden Soldaten in die glasigen Augen geschaut hat, denkt künftig zweimal nach, bevor er einen Krieg beginnt.‘ Ich hoffe aufrichtig, dass einmal auf aller Welt der gesunde Menschenverstand walten wird und die Welt nie wieder Kriege sehen wird.“

Ein büßender Russenjunge vorm Nazi-Bundestag?

Besonders Nikolajs Worte über „friedliche“ Kriegsopfer, die „nicht kämpfen wollten“ empörten nun die russischen sozialen Netzwerke und Internetforen. Der Blogger Sergej Koljasnikow beispielsweise nennt Desjatnitschenkos Rede eine „Buße“ und beschuldigt ihn, Nazi-Soldaten als „Kriegsopfer“ anzusehen. Ein anderer Blogger unter dem Pseudonym Alexandr Rodschers schreibt „Wie der Junge Kolja vorm Nazi-Bundestag Buße tut“ und rollt damit eine Pauschalbeschuldigung wieder auf, die von so vielen Menschen - Russen und Deutschen und anderen - doch längst als veraltet und abgetan angesehen wurde: die Bundesrepublik als rechtlicher Erbe des Dritten Reiches, die unzureichende Entnazifizierung in der Nachkriegszeit. Ergo: Der Bundestag ist noch immer von Nazis besetzt. So heißt es nun jedenfalls plötzlich wieder im Netz.

Jelena Kukuschkina, Mitglied der kommunistischen Partei KPRF und der gesetzgebenden Versammlung der Region Jamalo-Nenetzk, in der Nowyj Urengoj liegt, zeigte sich geradezu entrüstet über die Worte des Schülers: „Solche Dinge müssen direkt an der Wurzel ausgemerzt werden!“ Koljasnikow ruft gar die Administration des russischen Präsidenten und die Generalstaatsanwaltschaft auf, zu untersuchen, ob die Rede des jungen Nikolaj nicht eine Rechtfertigung der Verbrechen der Wehrmacht darstelle. Das nämlich ist in Russland eine Straftat.

Darauf folgte prompt eine Reaktion aus dem Kreml: Nein, man werde sich nicht "mit Übungen in Menschenhass" beschäftigen, sondern echten Bildungsfragen. "Wissen Sie, der Auftritt unseres russischen Schülers im Bundestag bedarf sicher keinerlei Reaktion der Administration des Präsidenten", erklärte am Dienstag Putins Sprecher Dmitrij Peskow. "Es ist offensichtlich, dass der Schüler nichts Schlechtes im Sinne hatte, offenbar nur sehr aufgeregt war, als er im Bundestag auftrat."

Auch der Bürgermeister Iwan Kostogris von Nowyj Urengoj verteidigt die Worte des Schülers: Diese könnten keinesfalls als Rechtfertigung des Faschismus gelten. Vielmehr sei eine solche Interpretation „eine Provokation gegen das russische Volk und deren Umgang mit den Ereignissen während des Großen Vaterländischen Krieges.“ Und Nadjeschda Noskowa, Sprecherin der Jamalo-Nenetzk-Region, fügte hinzu, dass „der Fokus der Aufmerksamkeit sich verschiebt“ während der Diskussion um die Rede der Schüler.

Dabei zeigen die sechs Schülerbeiträge in ihrer Gesamtheit doch: In dem Projekt, das sie gemeinsam realisiert haben, geht es um Frieden, ohne eine bestimmte Konfliktseite einzunehmen oder gar Kriegsverbrechen zu verharmlosen.

So zitierte beispielsweise Nikolajs Mitschülerin aus Nowyj Urengoj, Walerija Agejewa, Julius Dietrich, der sagte, sie hätten alle gehofft, dass „dieser Schwachsinn bald ein Ende haben würde und wir alle nach Hause zurückkehren können, denn wir haben genug“. Offensichtlich war es nicht Dietrichs größter Wille gewesen, im diesem Krieg zu kämpfen. 

„Soldatengräber sind die größten Prediger des Friedens“, zitiert Walerija weiter den deutschen Philosophen Albert Schweitzer. Und die dritte russische Vertreterin erzählte die Geschichte ihres Urgroßvaters, der mit der Hilfe eines deutschen Generals mit Namen Hans aus der Gefangenschaft entkommen konnte.

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"Frieden über den Gräbern"

Die Initiative zwischen den Schulen in Nowyj Urengoj und Kassel ist kein einmaliges Projekt. Vielmehr gibt es unter Schirmherrschaft des VDK zahlreiche Austausch- und Geschichtsprojekte, die über direkten Kontakt Erinnerung, Verständnis und Frieden fordern wollen. 

Seit dem 6. Dezember 1992 gilt außerdem zwischen Russland und Deutschland eine Vereinbarung, wonach die Gräber der einstigen Soldaten auf beiden Seiten erkundet und bewahrt werden sollen. Der VDK ist damit von der Bundesregierung betraut und betreut zahlreiche Gedenkstätten in Deutschland, Westeuropa, Osteuropa und eben auch Russland.

Außer dem Soldatenfriedhof in der Region Krasnodar, den die Schüler aus Kassel und Nowyj Urengoj nun besuchten, befindet sich ein weiteres großes Projekt beispielsweise in Rschew im Twerer Gebiet - dem Ort der gleichnamigen Schlacht, die ebenso brutal und blutig ausging wie Stalingrad und als zweitschrecklichste Schlacht im Zweiten Weltkrieg auf sowjetischem Gebiet gilt.

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