Der russische Traum von Zargrad: Verpasste Chance oder strategischer Schachzug?

Natalya Nosova
In der Geschichte gab es zahlreiche Versuche, die alte Hauptstadt von Byzanz zu erobern. Allein Russland stand einige Male kurz davor, seinen lang gehegten Traum von der Einnahme der Stadt zu verwirklichen. Doch es entschied sich immer wieder dagegen.

Jahrhundertelang träumte Russland von der Kontrolle der Meerengen des antiken Konstantinopel, das früher als Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und heute als Istanbul bekannt ist und Europa mit Asien verbindet. Die Stadt war sowohl der Schlüssel zur geopolitischen Vorherrschaft im Nahen Osten als auch der kürzeste Weg von Europa nach Indien.

Katharina die Große zum Beispiel wollte Konstantinopel so sehr, dass sie ihren Enkel Konstantin nannte, den ersten und letzten Kaiser von Byzanz. Sie wollte ihn als Herrscher eines wiederauferstandenen Imperiums einsetzen.

„Was wird mit uns und unseren Betrieben geschehen, wenn einer Frau ein Gebiet von Sibirien bis Ägypten gehört? Rette sich, wer kann!“, schrieb der italienische Philosoph Alessandro Verri in den 1770er Jahren.

Die zahlreichen Versuche, die Stadt zu erobern, wurden jedoch nicht immer nur aus strategischen Gründen geführt. In Russland wurde die Stadt auch Zargrad genannt und galt als das historische Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. Die Hagia-Sophia-Kathedrale, die die Türken in eine Moschee umwandelten, steht bis heute in der Stadt. Die Kriege, die Russland gegen das Osmanische Reich führte, wurden als Missionskreuzzüge bezeichnet, deren Ziel es war, die orthodoxe Welt vom muslimischen Joch zu befreien.
Dennoch hat Russland die Stadt nie annektiert, obgleich es in seiner Geschichte zwei Chancen gegeben hat, es fast ohne Widerstand zu tun.

Konstantinopel versus Reparationsleistungen und Steuervorteile

Laut russischen Chroniken war Großfürst Oleg im Jahr 907 das erste russische Oberhaupt, das erfolgreich an den Toren von Konstantinopel ankam. Aufgrund seiner legendären Voraussicht wurde ihm der Spitzname „der Prophet“ verliehen. Er galt als herausragender militärischer Anführer, dessen Offensiven die Grundlagen des alten russischen Staates und dessen Grenzen legten. Hätte er demnach am Ende eine andere Entscheidung getroffen, wäre Konstantinopel zweifellos ein Teil des Russischen Reichs geworden.

Laut den Chroniken griff er Zargrad mit einer Infanterie und einer Flotte von 2 000 Schiffen an. Historiker schätzen jedoch, dass die Zahl in Wirklichkeit geringer ausfiel. Die Griechen schlossen daraufhin die Tore, so dass das blutige Massaker am Rande der Stadt erfolgte.

„Und viele Griechen wurden an der Peripherie getötet, und viele Zelte wurden zerstört, und die Kirchen brannten. Und von denen, die gefangen genommen wurden, wurden einige zerstückelt, andere gefoltert, und weitere wurden erschossen und einige ins Meer geworfen, und noch viel Böses fügten die Russen den Griechen zu, wie es Feinde gewöhnlich tun", heißt es in der Chronik.

Nachdem Oleg jedoch Konstantinopel erobert hatte, erkannte er, dass ein Friedensabkommen für Russland vorteilhafter wäre, als eine weitere Expansion. Der Legende nach befestigte der Großfürst demzufolge sein Schild an den Stadttoren, unterzeichnete ein vorteilhaftes Handelsabkommen mit Konstantinopel und nahm eine beträchtliche Entschädigung entgegen. Danach konnten die Russen ein halbes Jahr lang steuerfrei am Rande der Hauptstadt wohnen, ohne Steuern zu zahlen, zollfrei handeln und auf Kosten von Byzanz das Recht auf kostenlose Verpflegung und die Reparatur von Booten genießen.

Konstantinopel versus Verzweiflung

Katharina die Große bezeichnete ihre Pläne, die griechische Monarchie wieder herzustellen als „das griechische Projekt“. Es sah keine unmittelbare russische Expansion, sondern die Schaffung eines neuen Staates unter dem alten Namen „Dakija“ vor sowie eine Ausweitung der russischen Einflusssphäre. Der Plan beinhaltete die letztendliche Vertreibung der Türken aus Europa, die Befreiung aller auf dem Balkan lebenden Christen vom muslimischen Joch und natürlich die Eroberung Konstantinopels. „Das griechische Projekt“ nahm jedoch kein gutes Ende. Die Herrscherin fand in Europa nicht genug Unterstützung, so dass Konstantinopel, als ein weiterer russisch-türkischer Krieg ausbrach und Russland 1783 die Krim anschloss, schon bald in Vergessenheit geriet.

Katharinas dritter Enkel, Zar Nikolai I., kam ihrem Traum jedoch noch näher. Im Jahr 1829 drang die russische Armee in das 240 Kilometer von Istanbul entfernte Adrianopel ein, das heute den Namen Edirne trägt. Es hätte zwei Tage gedauert, diese Distanz zu durchqueren, zudem wäre die Stadt voraussichtlich gefallen, da die osmanische Armee sich zu diesem Zeitpunkt in einem ausgelaugten und erschöpften Zustand befand. Stattdessen schloss Nikolai mit Sultan Mahmud dem Zweiten ein Abkommen. Nachdem das Osmanische Reich einige hochtrabende Versprechungen über Freundschaft gemacht hatte, die schon zwölf Jahre später in Vergessenheit geraten waren, schloss das Osmanische Reich die Meeresstraße zu den anderen Ländern.

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Es gab jedoch noch einen weiteren, wichtigeren Grund für Russlands großzügige Geste: Es war überhaupt nicht klar, was Russland mit Konstantinopel nach der Eroberung der Stadt tun sollte. Das russische Reich hatte nicht genug Ressourcen, um die neuen Gebiete zu verwalten, und eine siegreiche Armee in der beschlagnahmten Stadt in Armut zurückzulassen, hätte zu einer Rebellion geführt. Darüber hinaus hätte die Eroberung Konstantinopels eine Umgestaltung ganz Südosteuropas bedeutet und hätte leicht zu einem Weltkrieg führen können, weil England und Frankreich solch eine Entwicklung nicht akzeptiert hätten. Daher war es einfacher, keinen Anspruch auf die Stadt zu erheben und stattdessen das Problem mit einem vorteilhaften Friedensvertrag zu lösen.

Nikolai I. musste sich später viele Beschwerden darüber anhören, die Gelegenheit, Konstantinopel einzunehmen, nicht genutzt zu haben. Er reagierte auf solche Beschwerden, indem er erklärte, darüber glücklich zu sein, dass das einzige, was er und Katharina die Große gemeinsam hätten, das „Gesichtsprofil“ sei. Er mochte nämlich die Art und Weise, wie seine Großmutter regierte, nicht.

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