Die Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion werden vor allem aufgrund ihrer Eiseskälte in Erinnerung bleiben, doch sie waren nicht immer so. Im Jahre 1944 waren die Beziehungen noch so gut, dass der nichts ahnende amerikanische Politiker Henry Wallace nach Kolyma eingeladen wurde, um das größte Arbeitslager der UdSSR persönlich zu besichtigen.
Wallace wurde eine zeitweilig renovierte Kommune voller wohlgenährter und glücklicher Bürger vorgestellt, von denen die meisten jedoch eigens dorthin gebracht wurden. Wallace hielt die Zustände für wahr und eine der kolossalsten Menschenrechtsverletzungen blieb somit unbemerkt. Er bezeichnete den Gulag sogar als „eindeutigen Beweis für eine herausragende und begabte politische Führung". Wie konnte Wallace so leicht betrogen werden?
Der Mann, der der Sowjetregierung vertraute
Vor Joseph McCarthy herrschte in Amerika eine andere Stimmung. In demselben Land, in dem Politiker kurze Zeit später öffentlich als „kommunistische Spione“ denunziert werden sollten, lobten linke Demokraten im Zeitalter von Roosevelt zuvor Stalin und die Sowjetunion. Henry Wallaces Stimme war dabei die lauteste unter ihnen.
Als die USA und die UdSSR im Jahre 1941 zu Verbündeten wurden, war darüber niemand mehr erfreut als Wallace. Während des Zweiten Weltkrieges lobte er Stalins Fünfjahrespläne sowie die Entwicklungen in Sibirien und sagte der Presse, dass die Sowjetbürger nur „versuchten, ein besseres und erfüllteres Leben zu führen, indem sie die Natur nutzten“.
Aufgrund seines Interesses am Fernen Osten wurde Wallace von Roosevelt ausgewählt, um die an die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg gelieferte Industrieausrüstung zu überprüfen, die sich in den sowjetischen Arbeitslagern im Einsatz befand. Überglücklich begann Wallace Russisch für den Besuch zu lernen, der schließlich am 20. Mai des Jahres 1944 stattfand.
Einzigartige Täuschung
Ohne Wallaces Wissen koordinierte das NKWD, die sowjetische Geheimpolizei, seine gesamte Reise in die Stadt Magadan im Fernen Osten. Während der 25-tägigen Tour besichtigte der Vizepräsident hauptsächlich Lager im Dalstroj-Netzwerk – einem einzigartigen NKWD-Betrieb, das lauter Opfer der Stalinschen „Säuberungen“ beherbergte. Wallace, der sich in seinem Tagebuch Notizen über die seltsamen blauen Spitzen seiner Wächter machte, war sich nicht bewusst, dass es sich dabei um die Standarduniform der NKWD-Offiziere handelte. Auch seinen Begleiter Sergo Goglidze, einen der Hauptscharfrichter des GULAG, schätzte er vollkommen falsch ein und nannte ihn „sehr sanft und verständnisvoll mit den Menschen“.
Auf Befehl des NKWD wurde der Teil Magadans, der Wallace gezeigt wurde, vorläufig umgewandelt. Die Kolyma-Goldmine zum Beispiel, in der allein im Jahr 1942 über 16 270 Menschen starben, war auf einmal funktionsfähig. Um den Schein zu wahren, wurden zudem die Wachtürme und der Stacheldraht zerlegt sowie die schwächsten Häftlinge in eine andere Mine gebracht. Gut gekleidete NKWD-Offiziere, die sich als Arbeiter ausgaben, nahmen stattdessen ihren Platz ein.
Auch die gut bestückten Läden in einer Stadt, in der die Bewohner mit rationiertem Brot kaum überlebten, waren durchaus beeindruckend. Ein Junge in Magadan berichtete: „Das Ungewöhnlichste war, dass die Fenster der Geschäfte plötzlich voller sowjetischer Nahrungsmittel waren. Gott weiß, wo dieses Zeug herkam.“ Wallace zeigte sich äußerst beeindruckt und soll bei seinem Besuch in der „Luxusabteilung“ eines Ladens, die es zuvor gar nicht gegeben hatte, eine teure Flasche Parfüm gekauft haben.
Ein begeisterter Kunde
Wallace hatte bei seinem Besuch den Auftrag, mit den Menschen in Magadan ins Gespräch zu kommen, doch für die Behörden war seine Visite ein Albtraum. Die Tatsache, dass all diejenigen, die mit ihm sprachen, unter Eid standen und sich wie „loyale sowjetische Patrioten“ verhalten mussten, da ihnen sonst schlimme Konsequenzen drohten, blieb von ihm unbemerkt.
Bei seinen Gesprächen mit zwei Mädchen auf einer Schweinefarm sorgte er unter anderem für Panik, indem er detaillierte Fragen zu den Schweinen stellte. Die Mädchen, die sich später als Büroangestellte entpuppten, hatten von Schweinen keine Ahnung und mussten durch die falsche Übersetzung des Dolmetschers vor der Demütigung gerettet werden.
Am spektakulärsten war Wallaces Rede auf Russisch, in der er einer Schar nervöser, in Schale geworfener Gefangener erzählte, dass Sibirien nicht mehr für „Sträflingsketten und Exil“ stünde.
Stalins Marionette
Wallaces Berichten zufolge war seine Reise nach Kolyma ein großer Erfolg. Sie formte sogar seine außenpolitische Ambition, die einstige Kriegsallianz mit „unseren zwei großen Nationen, die in enger Harmonie arbeiteten“ in Friedenszeiten weiterzuführen.
Wallace wurde im Jahre 1944 von seinem Mandat als Vizepräsident entbunden, da man ihn als zu linksgerichtet und exzentrisch eingestuft hatte. Das hielt Stalin jedoch nicht davon ab, ihn als prosowjetischen Präsidentschaftskandidaten zu betrachten. Im Jahre 1948 lehnte seine linke Progressive Partei Trumans Haltung, „Russland gegenüber andere Seiten aufzuziehen“ ab.
Aufgrund seiner Magadan-Erfahrungen betrieb Wallace eine Anti-Marshall-Plan-Plattform und bezeichnete das Programm als „westlichen Militärblock gegen Russland“. Stalin seinerseits bezeichnete Wallaces Politik als „fruchtbare Grundlage ... für die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit“. Am Ende erhielt Wallaces Progressive Partei nur 2,37 Prozent der Stimmen. Später entpuppte sich Harry Dexter White, der von Wallace als Vizepräsident vorgeschlagen wurde, darüber hinaus als sowjetischer Spion.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, wurde Wallace bei seinem Magadanbesuch hinters Licht geführt und so als Sprachrohr für die „sowjetische Sache“ instrumentalisiert. Sein größter Fehler war es wohl, in diesem rauen politischen Klima, das aus Atombomben und Arbeitslagerenthüllungen bestand, etwas zu wohlmeinend und friedfertig zu sein.