Wie der Zweite Weltkrieg aus Gulag-Insassen Helden machte

Geschichte
BORIS JEGOROW
Rund eine Million ehemaliger Gulag-Häftlinge kämpften im Zweiten Weltkrieg für die UdSSR. Einige zeigten dabei so viel Einsatz, dass sie das Schlachtfeld als Helden der Sowjetunion verließen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden auch die Gefangenen in den Straflagern zu Arbeiten herangezogen. Sie errichteten Eisenbahnstrecken und Flugplätze, bauten Kohle ab, ernteten Holz und förderten Öl. Sie produzierten von der Roten Armee benötigte Güter. Es gab aber auch einige Gefangene, die frei gelassen wurden, um mit Waffen an der Front gegen den Feind zu kämpfen.

Lange Zeit war es keine Option, Gulag-Häftlinge frei zu lassen und zur Armee zu schicken. Doch die katastrophalen Niederlagen und massenhaften Verluste im Jahr 1941 zwangen den Kreml zum Umdenken.

Gefangene, die wegen minder schwerer Verbrechen einsaßen, bekamen die Gelegenheit, ihren Namen reinzuwaschen, indem sie dem Vaterland dienten. Sie wurden von der Roten Armee und der Marine rekrutiert. Politische Gefangene, Volksfeinde und Räuber durften nicht zum Militär. Diese Häftlinge wurden im Gegenteil noch strenger behandelt und oft auch nach Absitzen ihrer Strafe nicht freigelassen.

Die ehemaligen Gulag-Insassen bildeten keine Sondereinheit. Sie kamen auch nicht in die eigens für Deserteure eingerichteten Strafbataillone. Sie dienten als gewöhnliche Soldaten in regulären Einheiten.

1941 waren über 420 000 Soldaten aus dem Gulag im Kriegseinsatz. In den Jahren 1942/43 kamen noch 153 000 Mann hinzu. Insgesamt dienten während des Krieges in der Roten Armee rund eine Million Strafgefangene.

Die Gulag-Insassen begeisterten sich für den Kriegseinsatz. Patriotismus und Hass gegen den Feind waren dafür nicht die einzigen Gründe. Mit Kriegsbeginn wurden die Lebensmittelrationen in Gefängnissen und Straflagern massiv gekürzt. Soldat zu werden war eine Gelegenheit, weniger hungern zu müssen.

Um sich zu rehabilitieren, kämpften viele der ehemaligen Strafgefangenen hingebungsvoll und mutig. Der frühere Artillerieoffizier Jewgeni Wesnik erinnert sich (rus): „Diese Schwerkriminellen kämpften wie kein anderer. Warum? Weil ich sie menschlich behandelte. Sie waren die ersten, die die feindliche Artillerie unter Beschuss nahmen und die ersten, die einen Aussichtsturm errichteten. Sie kämpften wie die Tiere. Ich habe sie motiviert und belohnt. Das hat viel gebracht!” 

Viele der ehemaligen Gefangenen erhielten von ihren Befehlshabern Auszeichnungen und  Belohnungen. Einige wurden sogar als Held der Sowjetunion ausgezeichnet. Der ehemalige Häftling Alexei Otstawnow brachte es bis zum Leutnant. Er bekam die höchste Ehrung dafür, dass es ihm gelungen war, 1943 den Dnjepr zu überqueren – eine Heldentat.

Der bekannteste frühere Gulag-Insasse, der als Held der Sowjetunion geehrt wurde, war Alexander Matrossow. Er warf sich vor ein Maschinengewehr der Deutschen. In der UdSSR und auch im modernen Russland gilt er als echter Held. Nur wenige wissen, dass er, bevor er zur Roten Armee kam, wegen Diebstahls im Arbeitslager war.

Nicht alle Gulag-Häftlinge wollten dem Vaterland dienen. Vor allem politische Gefangene sahen sich als Feind des Sowjetregimes und wären bereit gewesen, Seite an Seite mit dem Dritten Reich gegen den Bolschewismus zu kämpfen. Den deutschen Geheimdienstlern war dies bewusst und sie versuchten, die Gulag-Insassen zu Aufständen zu motivieren. Doch alle Missionen mit dieser Absicht scheiterten.

Rekrutierte Verurteilte, die weiterhin kriminelle Handlungen begingen, wurden zurück ins Gulag geschickt oder, je nach Schwere ihrer Tat, direkt vor Ort hingerichtet. Doch die meisten der ehemaligen Strafgefangenen nutzten ihre Chance auf ein neues Leben nach dem Sieg im Krieg.

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