Joachim von Ribbentrop, Außenminister des Dritten Reichs, reiste am 23. August 1939 nach Moskau, um dort Sowjetführer Stalin und seinen sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow zu treffen. Die Weltgemeinschaft war verwundert. Noch vor kurzem schienen friedliche Gespräche unvorstellbar.
Die ultralinke UdSSR und das ultrarechte Nazideutschland schienen die geborenen Feinde zu sein. Hitler sprach beständig davon, den Osten als neuen Lebensraum zu erobern, einschließlich der UdSSR. In der Sowjetunion wurde seit Hitlers Machergreifung nur negativ über den Nationalsozialismus berichtet und man positionierte sich als Vorreiter des Antifaschismus.
Bei Ribbentrops Ankunft am Moskauer Flughafen hing dort zwar eine Hakenkreuzflagge, diese war jedoch eine Requisite aus Filmen gegen den Nationalsozialismus, wie der damalige US-amerikanische Botschafter in Moskau, Charles Bohlen, erzählte. Und dann führten Moskau und Berlin Friedensverhandlungen und noch mehr.
Der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet den deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag.
gemeinfreiHitler hatte es eilig, seinen Außenminister nach Moskau zu schicken. In den letzten Jahren war er auf Expansionskurs gewesen: der Anschluss Österreichs (März 1938), die Annexion des tschechoslowakischen Sudetenlandes (September 1938), die Besetzung der Überreste der Tschechoslowakei (März 1939).
Jetzt war Polen an der Reihe - und Hitler brauchte dringend die Garantie, dass die UdSSR sich nicht gegen ihn stellen würde. Der Angriff sollte am 25. August beginnen, alle waren vorbereitet. Nun musste Hitler schnell handeln.
„Also hat er beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen”, heißt es in der Publikation „Geschichte der internationalen Beziehungen”, die unter anderem von Anatolij Torkunow, Rektor des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, herausgegeben wird. „Am 21. August 1939 wandte er sich an Stalin und bat ihn, Ribbentrop spätestens am 23. August zu treffen.”
Stalin war einverstanden. Es lief gut für Deutschland. Eine Einigung war nach wenigen Stunden erzielt. In der Nacht unterzeichneten Ribbentrop und Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt – und zusätzlich ein geheimes Protokoll.
Adolf Hitler mit Soldaten und Offizieren während der Kämpfe für Warschau
Narodowe Archiwum CyfroweDer Pakt selbst war nichts Besonderes, eine Standardvereinbarung. Die UdSSR und Deutschland erklärten, sie würden jegliche Gewaltakte und Bündnisse mit der anderen Partei feindlich gesinnten Staaten unterlassen und neutral bleiben, wenn die andere Partei von einem Drittstaat angegriffen wird.
Am 22. Juni 1941, 22 Monate nach der Unterzeichnung, brach Deutschland den Pakt und griff die UdSSR mit aller Macht an. Für Hitler waren internationale Abkommen das Papier nicht wert, auf dem sie standen. Das hatte er mit Stalin gemeinsam. „Bei der Unterzeichnung des Paktes wussten Hitler und Stalin bereits, dass ein Krieg [zwischen der UdSSR und Deutschland] unvermeidlich war”, schreibt Torkunow. Das Wichtigste an dem Pakt war ein geheimes Protokoll, das eine Vereinbarung zur künftigen deutsch-sowjetischen Grenze enthielt.
„Im Falle einer territorialpolitischen Neuordnung der polnischen Bezirke verläuft die Grenze zwischen den Interessengebieten Deutschlands und der UdSSR ungefähr entlang der Flüsse Pisa, Narew, Vistula und San”, heißt es darin. „Die Frage, ob es im beiderseitigen Interesse ist, den unabhängigen polnischen Staat zu erhalten, kann nur im Zuge der zukünftigen politischen Entwicklung abschließend geklärt werden.”
Im Zuge der „zukünftigen politischen Entwicklung” verschwand Polen von der Landkarte. Am 1. September 1939 marschierten 1,5 Millionen Wehrmachtssoldaten von Westen aus nach Polen ein, vernichteten die polnische Armee in zwei Wochen und eroberten Warschau. Am 17. September marschierte auch die Rote Armee von Osten aus nach Polen ein, stieß auf keinen Widerstand und besetzte alle Gebiete innerhalb ihres „Einflussbereichs”. Später, 1940, zwang Moskau drei baltische Staaten (Estland, Lettland, Litauen) zum Beitritt zur UdSSR und vervollständigte damit ihre territoriale Expansion.
Der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow (links) und Reichsminister des Auswärtigen Joachim von Ribbentrop
gemeinfreiObwohl unveröffentlicht, war das Protokoll kaum wirklich geheim - die deutschen Diplomaten ließen Informationen durchsickern, so dass die ganze Welt zumindest vermuten konnte, worauf sich Moskau und Berlin geeinigt hatten. „Es wächst die Überzeugung, dass ... Deutschland und Russland sich auf die Teilung Polens geeinigt haben und dass die baltischen Staaten ein russischer Einflussbereich sein sollen”, schrieb (eng) „The Guardian” wenige Tage nach Unterzeichnung des Vertrags. Die UdSSR bestritt die Existenz des Zusatzprotokolls jedoch bis 1989.
Die Haltung der russischen Staats- und Regierungschefs gegenüber dem Pakt ist heute zurückhaltend: Nichts, worauf man stolz sein kann, aber auch kein Grund zur Schande.
„Die Sowjetunion hat wiederholt versucht, einen antifaschistischen Block in Europa zu schaffen. Alle diese Versuche sind gescheitert”, sagte (eng) Wladimir Putin im Jahr 2015. „Und als die Sowjetunion feststellte, dass sie alleine gegen Hitler-Deutschland stand, hat sie Schritte unternommen, um eine direkte Konfrontation zu vermeiden.”
Karikatur aus einer polnischen Zeitung: „Der preußische Tribut. Für dich, Ribbentrop, haben wir den Pakt unterzeichnet. Küss uns jetzt die Hand, nehme den Pakt, und was weiter zu tun ist, werden wir uns noch überlegen.“
gemeinfreiIm Gegensatz zu Putin bewerten westliche Medien und Wissenschaftler den Pakt traditionell als bösartig und unmoralisch. Es ist schwer zu definieren, wer der Wahrheit näher ist. „Natürlich war es ein zynischer Pakt mit dem Teufel, um die Interessen unseres Landes zu wahren”, sagt (rus) der Historiker Alexej Issajew. Aber er half der UdSSR bei der Vorbereitung auf den Krieg. „Unsere strategische Lage hat sich 1939 verbessert. 300 Kilometer von der alten zur neuen Grenze haben der UdSSR in Bezug auf Zeit und Entfernung spürbare Vorteile gebracht”, so Issajew.
Die Sowjetunion war auch nicht der erste Staat, der mit dem „Teufel” paktierte. Zwei der führenden europäischen Demokratien, das Vereinigte Königreich und Frankreich, waren Hitler immer wieder entgegengekommen. Sie ließen ihn Deutschland remilitarisieren, akzeptierten die Annexion Österreichs und wirkten während der Münchner Konferenz im September 1938 auf ihren Verbündeten, die Tschechoslowakei, ein, Hitler das Sudetenland zu überlassen. Anders als Stalin haben Großbritanniens Neville Chamberlain und Frankreichs Édouard Daladier dadurch nichts gewonnen. Sie haben ihn lediglich angestachelt, seine Expansionspolitik weiterzuführen.
„Die Beschwichtigungspolitik war falsch und kontraproduktiv, weil es unmöglich war, den unbegrenzten Appetit der Nazis zu stillen”, erklärt Torkunow. „Moskaus Aktionen, waren ebenso zynisch wie die von London und Paris, hatten aber eine andere Motivation”. Mit anderen Worten, Stalin, der Territorien eroberte und Zeit gewann, handelte unmoralisch, aber rational - Chamberlain und Daladier, die versuchten, Hitler zu besänftigen, handelten ebenso unmoralisch, aber auch dumm.
Wo das hinführte, ist bekannt. Hitler ließ sich durch keinerlei Verträge aufhalten. Es brauchte einen Zweiten Weltkrieg mit 60 Millionen Opfern, um ihn zu stoppen und die Welt vor seinen utopischen Ideen zu bewahren. Der Molotow-Ribbentrop-Pakt blieb eine der vielen beschämenden Seiten der Vorkriegsgeschichte.
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