Schon lange vor dem Kalten Krieg und der Angst, dass „die Russen kommen”, waren die USA Ende der 1910er Jahre beunruhigt. Die russische Revolution von 1917 hatte die US-Gesellschaft sehr beeinflusst und es bestand die Sorge, dass die Kommunisten auch in den Staaten die Macht übernehmen könnten.
Die rote Gefahr
Die Beziehungen zwischen der US-Regierung und linken und anarchistischen Bewegungen waren nie gut, doch ab 1919 herrschte buchstäblich Krieg.
Im Juni detonierten in acht amerikanischen Städten mehrere Sprengsätze. Ziel der Anschläge, die auf das Konto der italienischstämmigen anarchistischen Anhänger von Luigi Galleani gingen, waren Richter, Einwanderungsbeamte und Staatsanwälte.
Glücklicherweise wurde niemand verletzt, aber im Land machte sich Panik breit. Stand man etwa am Vorabend einer Revolution im russischen Stil oder am Rande eines Bürgerkrieges?
Eines der anvisierten Opfer der Bombenattentate von Juni, der Staatsanwalt Alexander Mitchell Palmer, erklärte gegenüber dem Kongress, die Revolutionäre seien bereit, „sich zu erheben und auf einen Schlag die Regierung zu vernichten”.
Palmer und sein Assistent, der spätere erste FBI-Direktor J. Edgar Hoover, organisierten die sogenannten Palmer Raids, eine Festnahmewelle gegen Linke und Anarchisten. Der Löwenanteil der letzten Einwanderer stammte aus West- und Osteuropa. Die USA schoben diese einfach ab.
Sowjetische Arche
Am 21. Dezember 1919 wurden 249 verhaftete Radikale an Bord der „USAT Buford” im Hafen von New York gebracht und heimlich als „Amerikas Weihnachtsgeschenk an Lenin und Trotzki” nach Russland geschickt.
Die Familien der Deportierten wurden erst über die Ausweisung ihrer Verwandten informiert, nachdem das Schiff bereits die Segel gesetzt hatte.
Die Zeitungen jubelten. Sie gaben dem Schiff einen biblischen Spitznamen: „Die Arche Noah war ein Versprechen für den Erhalt der Menschheit, die Sowjetarche ist ein Versprechen für den Erhalt Amerikas”, schrieb das “New York Evening Journal”.
Die „Saturday Evening Post” war der gleichen Meinung: „Die ‚Mayflower’ brachte die ersten Baumeister in dieses Land. Die ‚Buford’ hat die ersten Zerstörer aus dem Land gebracht.”
Auf nach Sowjetrussland
Da die USA und Sowjetrussland damals keine diplomatischen Beziehungen unterhielten, wurde das Schiff nach Finnland geschickt. Die Sowjets waren über die Reise informiert und freuten sich sehr auf die ehrenwerten Gäste.
Von besonderem Interesse für sie waren die anarchistischen Führer und Ideologen Alexander Berkman und Emma Goldman, die J. Edgar Hoover „die gefährlichste Frau in Amerika” nannte.
Goldman, auch als „Rote Emma“ bekannt, erinnerte sich: „28 Tage lang waren wir Gefangene. Tag und Nacht Wachposten vor unseren Kabinentüren. Eine Stunde pro Tag durften wir an Deck frische Luft schnappen. Unsere Kameraden waren in dunklen, feuchten Verliesen eingepfercht, elend gefüttert, und wir alle hatten keine Ahnung, wohin der Weg uns führen sollte. Doch wir waren in Hochstimmung. Ein freies, neues Russland wartete auf uns.”
In Finnland wurden die Passagiere der „sowjetischen Arche” vom finnischen Militär zur Sowjetgrenze eskortiert. Die meisten der Ausgewiesenen waren im Russischen Reich geboren, haben gegen den Zarismus gekämpft und mussten das Land verlassen. Nun hofften sie, für immer im sowjetischen Russland bleiben zu können. Die Realität sah jedoch ganz anders aus als sie erhofft hatten.
Desillusionierung
Von den Bolschewiki herzlich begrüßt, begannen die Neuankömmlinge sich in ihrem sowjetischen Leben einzurichten. Das Schicksal der meisten von ihnen ist ungewiss, doch die Wege der Schlüsselfiguren können nachvollzogen werden.
Als Emma Goldman und Alexander Berkman durch das Land reisten und dabei Lenin, führende Bolschewiki und ganz gewöhnliche Leute trafen, wurden sie von dem, was sie sahen, sehr desillusioniert. Von den Aktionen der Geheimpolizei Tscheka entsetzt, schrieb Berkman in seinem Buch „The Russian Tragedy”: „Aus der beabsichtigten Verteidigung der Revolution wurde die Tscheka die am meisten gefürchtete Organisation, deren Ungerechtigkeit und Grausamkeit den Terror über das ganze Land ausbreitete.”
Goldmann schrieb in „My Disillusionment in Russia”: „Ich fand die russische Realität grotesk, ganz anders als das große Ideal, das mich auf dem Gipfel der Hoffnung in das Land der Verheißungen getragen hatte. Ich erlebte einen bolschewistischen Staat, der selbstherrlich war, jede konstruktive revolutionäre Anstrengung wurde zunichte gemacht, unterdrückt, erniedrigt und aufgelöst.”
Das Fass zum Überlaufen brachte für beide die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands der Seeleute im Jahr 1921. „Der Stolz und Ruhm der Revolution”, wie Trotzki die Seeleute bezeichnete, forderte das Ende der bolschewistischen Diktatur und wieder politische Freiheit für alle sozialistischen Bewegungen im Land. Bald nachdem der Aufstand brutal niedergeschlagen worden war, verließen Goldman und Berkman das Land, um niemals zurückzukehren.
>>> Vier Aufstände in der Sowjetunion, die blutig niedergeschlagen wurden
Sowjetische Märtyrer
Allerdings waren nicht alle Passagiere der sowjetischen Arche von ihrer neuen Heimat desillusioniert.
Peter Bianki, Vorsitzender der einst mächtigen Union russischer Arbeiter in den USA, fand auch in Sowjetrussland seinen Platz. Bianki machte sich sofort an die Arbeit für die Sowjetrepublik: Er setzte sich in Sibirien für den Wiederaufbau des während des Bürgerkrieges beschädigten Verkehrssystems ein, diente als Regierungsbeamter in Petrograd (St. Petersburg) und sogar als stellvertretender Kommissar an Bord eines Krankenhausschiffs in der Ostsee.
Am 10. März 1930 wurde Peter Bianki zusammen mit zehn anderen Aktivisten und Funktionären der Kommunistischen Partei bei einem der antisowjetischen Aufstände im Altai-Gebiet getötet. Alle wurden zu sowjetischen Märtyrern.