Warum zeigte sich Josef Stalin gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche entgegenkommend?

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Die Bolschewiki haben die Macht der orthodoxen Kirche massiv beschnitten. Ausgerechnet Sowjetführer Josef Stalin war es, der die Beschränkungen lockerte. Der Grund war jedoch nicht, dass er plötzlich zum Glauben gefunden hatte.

Es gibt eine Legende, die besagt, dass Josef Stalin im Winter 1941 befohlen habe, dass die „wunderbringende Ikone der Heiligen Mutter Gottes von Tichwin in einem Flugzeug über die Stadt geflogen“ wurde, wie der orthodoxe Journalist Sergei Fomin schrieb. Das Wunder geschah. Die russische Hauptstadt blieb verschont, obwohl die Deutschen schon vor den Toren der Stadt standen. 

Diese Legende ist nicht wahr. Es gibt keine Beweise dafür, dass Stalin, ein überzeugter Bolschewist und Atheist, etwa derartiges veranlasst hat. Nicht eine höhere Macht hat Moskau vorm Feind gerettet, sondern der Mut und die Schlagkraft der Roten Armee. Doch solche Legenden halten sich hartnäckig. Eine andere besagt, dass die Heilige Matrona von Moskau Stalin den Sieg prophezeit und für eine Niederlage der Deutschen gebetet habe. Diese Geschichten zeigen, wie Stalins Verhältnis zur Orthodoxie in der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Es war sogar die Rede davon, dass er „heimlich orthodox“ sei. 

Zwei Jahre nach dem Sieg in der Schlacht bei Moskau traf Stalin auf die drei Obersten der russisch-orthodoxen Kirche. Er erlaubte, dass wieder Gottesdienste und Weihnachten sowie Ostern gefeiert werden dürften. Er versprach ihnen sogar, einige der nach 1917 beschlagnahmten Klöster zurückzugeben und inhaftierte Geistliche freizulassen. Im Grunde hat Stalin damit das orthodoxe Christentum in der atheistischen UdSSR wieder legalisiert. 

Sinneswandel? 

Die drei Kirchenobersten, angeführt von Sergius, Stellvertreter des Patriarchatsverwesers von 1925 bis 1943, dankten Stalin in einem sehr unterwürfigen Brief: „In jedem Ihrer Worte… haben wir ihr Herz gespürt, dass mit väterlicher Liebe für alle seine Kinder schlägt … Die russisch-orthodoxe Kirche verehrt Sie mit dem Gefühl, dass sie mit allen Russen zusammenlebt, durch den Willen zum Sieg und die heilige Pflicht, etwas für das Vaterland zu opfern. Gott schütze Dich in den kommenden Jahren, Josef Wissarionowitsch.“ 

Die Bolschewiki sprengten die Christ-Erlöser-Kathedrale im Dezember 1931.

Das demütige Lob war nachvollziehbar. Vor 1943 lebten die Orthodoxen in ständiger Angst. Antireligiöse Propaganda wurde verbreitet. Während der Repressionen der 1930er Jahre wurden mindestens 100.000 Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung hingerichtet. Gläubig in einem Land zu sein, das nur den Kommunismus verehrte, bedeutete, mit der Angst zu leben. Es ist daher wichtig, sich daran zu erinnern, dass der „liebe Josef Wissarionowitsch“ zu denen gehörte, die die anti-kirchlichen Repressionen zu verantworten hatten. Der Priester Job (Gumerow) sagte: „Jeder Versuch, den grausamen Verfolger als treuen Christen darzustellen, ist gefährlich und schändlich.“ Stalin war definitiv kein Christ. Doch warum zeigte er sich der orthodoxen Kirche gegenüber so entgegenkommend? 

Pragmatischer Ansatz 

Stalin, ein zynischer, aber auch kluger Mann, erlebte keine Offenbarung, sondern ihm war bewusst, dass es wichtig war, die orthodoxe Kirche nicht zu sehr zu strapazieren, um den Krieg gewinnen zu können. Erstens blieben viele Sowjetbürger heimlich religiös (was nicht direkt verboten war), so dass die „Legalisierung“ der Orthodoxie dazu beitrug, die Nation im Krieg zu vereinen - ein ganz entscheidender Faktor. Zweitens drängten die Alliierten Stalin dazu, die religiösen Beschränkungen zu lockern. Die Unterdrückung der Gläubigen brachte auf internationaler Bühne schlechte Presse. Drittens eroberte die Rote Armee 1943 die zuvor von Deutschen besetzten sowjetischen Gebiete zurück. Die Besatzer, die versuchten, öffentliche Unterstützung zu erhalten, hatten die von den Bolschewiki geschlossenen Kirchen wiedereröffnet. Es wäre in der Tat seltsam gewesen, wenn die Befreier sie wieder geschlossen hätten. 

Stalin hat das verstanden und handelte entsprechend. Sein Biograf, der Historiker Oleg Chlewnjuk schrieb: „Der Übergang von den Repressionen gegen Priester und Gläubige in den 1920er und 1930er Jahren zur Versöhnung war ein demonstrativer, pragmatischer Schritt. Eine solche Verschiebung der sowjetischen Politik in Richtung Religion ist im Zusammenhang mit der Förderung des russischen Patriotismus zu sehen.“ 

Stalin hielt seine Versprechen. 1943 wurde zum ersten Mal seit 20 Jahren ein Patriarch gewählt. Sergius Stragorodski wurde der 12. Patriarch von Moskau und ganz Russland. 

Stalin erwartete Loyalität und Kooperation. Im Gegenzug blieb die Kirche unbehelligt. Verhaftungen oder Hinrichtung drohte den Priestern nicht mehr. Die UdSSR war weiterhin ein atheistischer Staat. Die nächste Welle von Repressionen gegen die Kirche ereignete sich während der Herrschaft von Nikita Chruschtschow in den 1960er Jahren, war jedoch weitaus weniger blutig. 

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