„Ich bin müde. Ich gehe“: Wie der erste Präsident Russlands Boris Jelzin abtrat

Geschichte
JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
Vor 20 Jahren, um Mitternacht, sahen die Russen die Fernsehansprache des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin, in der er seinen Rücktritt verkündete und öffentlich um Vergebung bat. Wir erzählen hier, was an diesem Tag geschah und warum diese Ansprache immer noch in Erinnerung ist.

„Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich habe lange und qualvoll darüber nachgedacht. Heute, am letzten Tag des ausgehenden Jahrhunderts, trete ich zurück. Mir wurde klar, dass ich das tun muss. Russland muss mit neuen Politikern, mit neuen Gesichtern in das neue Jahrtausend eintreten“, verkündete Boris Jelzin, Russlands erster Präsident, am 31. Dezember 1999.

Er teilte dies in der traditionellen Neujahrsansprache im Fernsehen mit, fünf Minuten vor Mitternacht, als die Russen an ihren Festtafeln saßen, mit dem Sektglas in der Hand in Erwartung des neuen Jahrtausends, nicht aber des Rücktritts des Präsidenten.

„Es herrschte Stille, alle saßen wie versteinert am Tisch, als das Glockenspiel des Kremls zu schlagen begann. Ich schaute meine Eltern an – es waren Tränen in ihren Augen. Niemand in unserer Familie hat Jelzin geliebt. Aber das war stark“, erzählt sich Jegor Stepanjuk aus Wladikawkas über diesen Tag. Er war damals 14 Jahre alt und erinnert sich immer noch an diese Nacht.

Im Dezember 1999 hatte das Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten mit nur 4 % seinen Tiefpunkt erreicht. Das Verhältnis zu ihm im Land war, milde ausgedrückt, zwiespältig. Aber seine letzte Rede ging in die Geschichte ein. Er war das erste Staatsoberhaupt, das seine Nation um Verzeihung bat.

„Die Journalisten wurden im Kreml eingeschlossen und durften den Raum nicht verlassen.“

Die Neujahrsansprache des Präsidenten wurde zweimal aufgezeichnet – das erste Mal, wie üblich, ein paar Tage vor dem 31. Dezember. Sie enthielt kein Wort über seinen Rücktritt. „Und plötzlich sagt er ganz am Ende dieser Silvesteransprache: Mir hat die Art und Weise, wie sie aufgenommen wurde, nicht gefallen. Zeichnen wir sie noch einmal am 31. Dezember auf. Die Fernsehleute waren total schockiert, weil es so kurzfristig war. Aber Boris Nikolajewitsch ließ sich nicht umstimmen“, erinnert sich der Jelzin-Berater und Verfasser seiner Ansprache, Valentin Jumaschew. 

Am 31. Dezember kam Jelzin um 7 Uhr morgens zur Aufnahme in den Kreml. Sein Berater, der Leiter der Präsidialverwaltung, seine Tochter Tatjana, sein Nachfolger Wladimir Putin und Jelzins Frau Naina wussten, was er sagen würde. 

„In der Nacht zum 31. Dezember 1999 hatte Boris schlecht geschlafen. Er war früher als sonst – um sechs Uhr – aufgestanden, hatte gefrühstückt und begann sich für die Arbeit fertig zu machen. Er hatte bereits seinen Mantel angezogen und eröffnete mir plötzlich: Naja, ich habe beschlossen, zurückzutreten. Ich eilte zu ihm, umarmte und küsste ihn. Es standen Freudentränen in seinen Augen“, schrieb ihren Memoiren Naina Jelzina. Privatleben die Ehefrau Jelzins.

Die Ansprache ließ er in seinem Büro aufzeichnen. Nachdem er den letzten Satz gesprochen hatte, war deutlich zu hören, wie die Kreml-Uhr tickt. „Und es begann jemand zu applaudieren, die anderen schließen sich einer nach dem anderen an“, erinnerte sich Jelzin selbst. „Ich sah auf und erblickte das ganze Fernsehteam, das dastand und mich beglückwünschte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte“.

Dann aber wurde, laut Jumaschew, dem gesamten TV-Team die Handys abgenommen und es wurde in einen Raum ohne Telefon eingeschlossen, damit die Nachricht vom Rücktritt nicht vorzeitig in die Öffentlichkeit dringen konnte. Es wurde erst um Mitternacht freigelassen, als das ganze Land die Ansprache hörte.

Valentin Jumaschew brachte die Kassette persönlich in einer gepanzerten Limousine, von einem Polizeiauto begleitet, zum Fernsehsender.    

Die ersten Stunden danach

Nach der Aufzeichnung der Ansprache nahm Jelzin folgende Termine wahr: Er traf sich mit Patriarch Alexi, vollzog danach die Übergabe des „Atomkoffers“ und sah sich beim Abschiedsessen mit Vertretern von Militär und Geheimdienst die Aufzeichnung im Fernsehen an. Gleichzeitig stellte er ihnen den amtierenden Premierminister Putin offiziell als kommissarischen Präsidenten vor. Er überreichte Putin ein Geschenk: den Füllfederhalter, mit der er seine Dekrete (einschließlich des Dekrets über seinen Rücktritt) unterschrieben hatte. Schließlich bat er ihn noch: „Kümmern Sie sich um Russland!“. Das war seine letzte Handlung als Präsident.

„Boris kam früh nach Hause – es war noch hell. Er kehrte nie mehr in sein Kreml-Büro zurück“, erinnerte sich seine Frau Naina.

Als er nach Hause kam, berichtete Jelzin: „[Der US-Präsident] Bill Clinton rief mich im Wagen an. Ich wollte nicht mit ihm reden und versprach zurückzurufen. Ich kann es mir leisten – ich bin nicht mehr der Präsident“.    

Das Ende einer Ära

Nicht für alle war die Nachricht von seinem Rücktritt eine große Überraschung: Gegen Jelzin gab es bereits drei Impeachment-Verfahren. Nur einige Monate vor der Neujahrsansprache war der letzte Versuch unternommen worden, den Präsidenten abzusetzen. 

Irina Chakamada, die im Dezember 1999 in die Staatsduma wiedergewählt und zur stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden ernannt worden war, gehörte zu denjenigen, die den Rücktritt erwartet hatten. „Ich war schließlich Politikerin, ich erhielt Informationen, die  durchgesickert waren, und verstand, was vor sich ging“, erzählte sie. Aber was ausnahmslos allen auffiel, war Jelzins „tragische, in angeschlagenem Zustand“ gehaltene Rede, wie Chakamada es ausdrückte. Sie feierte Silvester in einem Skiresort mit Freunden. Sie alle reagierten sehr emotional: „Der Text, vor allem die Worte Ich möchte Sie um Verzeihung bitten. Alle fingen an zu weinen. Nein, sie haben nicht geweint – sie waren traurig. Jelzin mochte nicht allen gefallen, aber jeder erkannte, dass eine Ära mit ihm zu Ende gegangen war. Und wir sollten Recht behalten.“

„Ich möchte Sie um Verzeihung bitten!“, sagte Jelzin in jener Nacht. „Dafür, dass viele unserer Träume nicht wahr geworden sind. Und dass, was einfach schien, sich als qualvoll schwierig erwies. Ich entschuldige mich dafür, dass ich einige der Hoffnungen jener Menschen nicht erfüllt habe, die glaubten, dass wir mit einem Schlag von einer grauen, stagnierenden, totalitären Vergangenheit in eine helle, reiche, zivilisierte Zukunft springen können. Ich habe selbst daran geglaubt. Es schien, als könnten wir mit einem einzigen Ruck alles überwinden. Mit einem einzigen Ruck hat es nicht geklappt.“

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