Gespaltenes Verhältnis: Die russische Hassliebe zum Skilanglauf

Boris Klipinitser/TASS
Es wird nicht mehr viel darüber gesprochen, dabei hat es jeder in der Sowjetunion getan, nicht immer freiwillig. Die Rede ist vom Skilanglauf. Es war alles Lenins Idee. Sogar Fidel Castro musste die Skier anschnallen.

Unsere Erfolge im Eishockey und Eiskunstlauf sind legendär, während die neuen Anlagen und Abfahrten in Sotschi jedes Jahr Tausende von Touristen zum Skifahren anziehen. 

Worüber jedoch kaum noch gesprochen wird, ist der Skilanglauf. Russland hat atemberaubende Berge, aber fast 80 Prozent der Bevölkerung leben weit westlich oder nördlich von ihnen. Die großen städtischen Gebiete im europäischen Teil Russlands sind größtenteils flach. Abfahrtski war zu Sowjetzeiten ein Hobby für wenige Auserwählte. Es wurde in den 2000er Jahren immer beliebter und es wurden sogar künstliche Pisten außerhalb von Moskau gebaut, um die Nachfrage derer zu befriedigen, die es nicht bis nach Courchevel schaffen. 

Auch der Rest der Bevölkerung verbrachte zu Sowjetzeiten im Winter sehr viel Zeit auf Skiern: auf Langlaufbrettern. Und das oft nicht einmal freiwillig. 

Alle Mann in die Loipe   

Langlauf, der bereits 1919 von Wladimir Lenin populär gemacht wurde, war in der Sowjetunion sehr beliebt. Überall gab es Loipen und die Menschen fuhren auch auf gefrorenen und verschneiten Oberflächen von Flüssen und Seen, die reichlich vorhanden waren. 

Kinder wurden schon von Anfang an herangeführt an diese Form des Skifahrens. Unsere Skier waren aus Holz und in den schneereichen Gebieten des Landes wurde schon früh die Kunst des richtigen Wachsens gelehrt, um die Ski optimal zu pflegen und an die Außentemperatur und die Schneebeschaffenheit anzupassen. 

Im Gegensatz zu anderen Eissportarten war Langlauf für die Russen weniger ein Wettkampfsport als vielmehr ein allgemeines Fitnessprogramm, für das kein besonderes Talent notwendig war. Politiker, Prominente, Ballerinas und sogar Staatsoberhäupter posierten fröhlich auf Skiern, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Als Fidel Castro 1964 die Sowjetunion besuchte, wurde auch er geradezu gezwungen, sich auf die Bretter zu stellen und bot dabei einen amüsanten Anblick. 

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Nikita Chruschtschow und der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas Fidel Castro beim Skifahren auf dem Land, 1964

Sich auf Skiern fortzubewegen war oft die beste Möglichkeit auf dem Land von A nach B zu gelangen, wenn Laufen oder Radfahren durch den Schnee nicht mehr möglich war. Die sowjetische Armee nutzte das Langlaufen in großem Umfang - regelmäßige Turniere fanden unter den Soldaten statt. Ganze Skibataillone wurden 1941 als strategische Einheiten geschaffen, um den Vormarsch der Nazis in der UdSSR in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs zu behindern.  

Skibataillon in Winter-Tarnanzügen, 1942

Schattenseiten 

Die Beziehung eines jeden Russen zu Skiern hat jedoch auch eine Schattenseite (es sei denn, er ist in einem Teil des Landes ohne Schnee aufgewachsen). Seit Wladimir Lenin 1919 fröhlich Jugend-Skibrigaden gründete, eskalierte das Ganze.

In den späten 1920er Jahren wurden die GTO eingeführt. Diese obligatorischen Fitness-Tests für alle im Alter von 10 bis 60 Jahren waren unter Schulkindern gefürchtet. Mädchen in der Altersklasse zehn bis elf Jahre mussten zum Beispiel beim Skilanglauf einen Kilometer in acht Minuten schaffen, um sich für das „Gold“ -Abzeichen zu qualifizieren. Achteinhalb Minuten reichten noch für „Silber“. Danach gab es nur noch Verlierer. 

Um die Vorgaben im Langlauf zu erreichen, musste draußen trainiert werden, und zwar regelmäßig. Während einige Familien jedes Wochenende auf Skiern unterwegs waren, war dies in anderen Familien eben nicht der Fall. Vermutlich hat daher irgendwann irgendjemand in der Sowjetunion entschieden, dass Langlaufen im Winter während des Schulsports obligatorisch werden sollte, damit alle die gleichen Chancen haben, die GTO-Ziele zu erreichen. Natürlich gab es auch begeisterte Skilangläufer, doch für andere wurde es der Fluch ihrer Kindheit.

Schulkinder mussten an bis zu zwei Tagen in der Woche im Skianzug und mit Skiausrüstung in der Schule erscheinen. Letzteres mag einfach klingen, wenn die Schule um die Ecke liegt. Doch einige Kinder mussten ihre Skier zur Hauptverkehrszeit in den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Stadt transportieren. Kein Vergnügen. 

Neue Wege 

Nun denken Sie, dass das heute anders ist, dass kein Kind mehr gezwungen wird, zweimal pro Woche Skilanglauf zu trainieren? Weil das überhaupt keinen Sinn macht? Falsch! Es gibt diese Tradition immer noch. In diesem Jahr wurde die Debatte über die Sinnhaftigkeit des obligatorischen Langlauftrainings, das in einigen Schulen noch immer auf dem Lehrplan steht, wieder aufgegriffen, denn in diesem Winter lagen die Temperaturen in Moskau selten unter dem Gefrierpunkt, zumindest im Februar. 

Es existieren auch noch immer GTO-Vorgaben in Russland und sie gelten jetzt ab dem sechsten Lebensjahr. Aber es gibt nun einen Ausweg für die nicht ganz so Fitten: Ski-Langlauf ist optional. Als Alternative in Regionen ohne Schnee wird nun ein Dauerlauf angeboten. 

Heutzutage ist Abfahrtsski günstiger und viel beliebter. Viele glauben, dass die Zeit des Wintersports in Russland vorbei ist, denn viele andere Sportarten haben ihn in der Beliebtheit weit überholt. Aber wenn die Kinder nicht mehr dazu gezwungen werden, dann könnte er eine Renaissance erleben. 

>>> Übung macht den Meister: Woher kommt das russische Eislauftalent?

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