Hegemonieansprüche: Sowjetrussland und Polen im Kampf um Osteuropa

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Der schlimmste Feind Sowjetrusslands und der Bolschewiki vor Hitlers Machtübernahme und dem Zweiten Weltkrieg war Polen. Beide Länder kämpften erbittert um die Vormachtstellung in Osteuropa.

Der Niedergang des Russischen Reiches brachte eine Reihe neuer Staaten hervor. Die größten und mächtigsten waren Sowjetrussland und Polen. Während das Ziel der Bolschewiki darin bestand, alle in Russland operierenden regierungsfeindlichen Kräfte zu unterdrücken und das weitere Auseinanderbrechen des Landes zu verhindern, sahen die Polen ihre Hauptaufgabe darin, die polnischen Länder wieder innerhalb der Grenzen von vor 1772 zu vereinen (vor der ersten Teilung Polens durch die Großmächte).

Sowjetische Truppen

Die riesigen Gebiete der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums lagen zwischen den beiden Machtzentren. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Abzug deutscher Truppen begann ein erbitterter Kampf zwischen Moskau und Warschau um diese Gebiete. 

Polnische Armee

Während die Bolschewiki durch die konterrevolutionären Weißen Armeen unter Führung von Anton Denikin und Alexander Kolchak unter großem Druck standen, versuchte Polen, das Chaos des Bürgerkriegs in Russland auszunutzen und sich so viele Gebiete des Gegners wie möglich einzuverleiben. Der polnische Politiker und Staatsführer Józef Piłsudski favorisierte die Gründung mehrerer kleiner Staaten auf russischem Gebiet, die von Polen abhängig wären. 

Józef Piłsudski und Rydz-Śmigły

Nach großangelegten Offensiven in den Jahren 1919 und 1920 fiel der größte Teil der Gebiete Weißrusslands und der Ukraine unter die Kontrolle der polnischen Streitkräfte. Zudem erklärten sich das neu gegründete Lettland und die übriggebliebenen Soldaten der Streitkräfte von Simon Petliuras Ukrainischer Volksrepublik zu Verbündeten von Piłsudski. 

Die Ukrainer, die ihren eigenen Nationalstaat schaffen wollten, betrachteten eigentlich sowohl die Bolschewiki als auch die Polen als Feinde. Nachdem sie jedoch von der Roten Armee zurückgedrängt worden waren, beschlossen sie, Warschau zu unterstützen, in der Hoffnung, dass Polen als Gegenleistung zu weitreichenden territorialen Zugeständnissen in der Westukraine bereit wäre und sie Kiew und die Zentralukraine erhalten würden. 

Piłsudski seinerseits war daran interessiert, einen Pufferstaat zwischen Polen und Sowjetrussland zu schaffen, und argumentierte, dass „es kein unabhängiges Polen ohne eine unabhängige Ukraine“ geben könne. 

Soldaten der Roten Armee vor dem Abzug an die Westfront

Am 7. Mai 1920 nahm die äußerst kampfbereite polnische Militäreinheit, die 3. Armee von Edward Rydz-Śmigły, unterstützt von Einheiten Petliuras, Kiew ein, was für die Sowjetregierung ein Schock war. Nachdem die Bolschewiki zu diesem Zeitpunkt Denikins und Koltschaks Soldaten erfolgreich in die Flucht geschlagen und sich die Weiße Armee im Wesentlichen auf die Krim zurückgezogen hatte, konzentrierten sie sich nun ganz auf den Krieg gegen Polen. 

Aus Sibirien und dem Kaukasus kam zahlreich Unterstützung, darunter die schlagkräftigsten Formationen der Roten Armee - die 1. Kavalleriearmee von Semjon Budjonny und die 25. Tschapajew-Gewehrdivision unter dem Kommando von Iwan Kutjakow. Fast die gesamte Luftwaffe wurde aus allen Teilen des Landes an der Westfront konzentriert. 

Einmarsch der polnisch-ukrainischen Truppen in Kiew

Trotz der Tatsache, dass die sowjetische Offensive in Weißrussland ins Stocken geraten war, war der Einsatz im Süden ein erstaunlicher Erfolg. Bis zum 12. Juni war Kiew befreit und die polnischen Truppen traten rasch den Rückzug nach Westen an. 

Die Führung von Sowjetrussland schöpfte neue Hoffnung, dass der Traum von der Weltrevolution doch noch wahr werden könne. 

Soldaten der Roten Armee vor dem Abzug an die Westfront

Polen musste sich dieser katastrophalen Entwicklung stellen und bat die Entente-Mächte um Vermittlung. Die Alliierten schlugen vor, die russisch-polnische Grenze entlang der „Curzon-Linie“ zu errichten, benannt nach dem britischen Außenminister George Nathaniel Curzon, der diesen Vorschlag gemacht hatte. 

Vom weißrussischen Hrodna über Brest-Litowsk (wo die berühmte Festung steht) und Lemberg bis zu den Karpaten sollte diese Grenze die Gebiete der polnischen Bevölkerung von Gebieten der nichtpolnischen Bevölkerung (ukrainisch, weißrussisch und litauisch) trennen. 

Die Bolschewiki hatten jedoch neues Selbstbewusstsein gewonnen und lehnten den Plan ab. 

Polnische Truppen während der Verteidigung Warschaus

Am 13. August 1920 begannen an der Westfront die Soldaten unter dem Kommando von Michail Tuchatschewski in Richtung Warschau zu marschieren. Zur gleichen Zeit waren die 1. Kavalleriearmee und Einheiten der Südwestfront von Alexander Jegorow in Kämpfe um Lemberg verwickelt. 

Kavallerie der Roten Armee

Es ist interessant, dass eine große Anzahl von Offizieren der Weißen Armee, die zu dieser Zeit auf der Krim gegen die Rote Armee kämpfte, den Sieg der Russen gegen Polen feierten und auf eine rasche Einnahme der polnischen Hauptstadt hofften. 

Sowjetische Artillerie in der Ukraine

Der Schlachtruf der Roten Armee lautete: „Vorwärts, Helden! Nach Warschau!“. In Wirklichkeit war die Situation jedoch nicht allzu hoffnungsvoll. 

Die Soldaten waren erschöpft und kräftemäßig an ihre Grenzen angelangt, die Nachhut schaffte den Anschluss nicht und es mangelte nicht nur an Munition. 

Die Mahnungen vieler Kommandanten zur Vorsicht und Ratschläge, den Angriff noch hinauszuzögern und die Soldaten aus der Stadt zurückzuziehen, verhallten ungehört. 

Die polnische Armee hingegen erhielt Verstärkung aus anderen Teilen des Landes. Der Vormarsch des Feindes ließ in der polnischen Bevölkerung den Patriotismus erwachen und die Bevölkerung machte mobil gegen die Bolschewiki. 

Darüber hinaus hatte die Entente nach der Ablehnung des Curzon-Plans durch Sowjetrussland militärische Ausrüstung nach Polen geschickt, darunter rund 600 Artilleriegeschütze.

Polnische Soldatinnen während des sowjetisch-polnischen Krieges

Bis zum 16. August hatten Einheiten der polnischen Armee unter Piłsudskis Kommando Gegenangriffe ausgeführt und drohten, die Truppen von Tuchatschewski zu umzingeln und zu vernichten, als sie die sowjetische Front durchbrachen.

Bei der Schlacht von Warschau, die in Polen auch als „Wunder an der Weichsel“ bezeichnet wird, wurden 25.000 Soldaten der Roten Armee getötet. Die polnische Seite hatte etwa 5.000 Tote und 10.000 Vermisste zu beklagen. 60.000 Rotarmisten gerieten in Kriegsgefangenschaft. 

45.000 Soldaten Sowjetrusslands waren von ihren Kameraden abgeschnitten und steckten in Richtung Ostpreußen fest. Beim Überqueren der Grenze wurden sie von den Deutschen interniert. 

Polnische Soldaten mit erbeuteten sowjetischen Flaggen nach der Schlacht von Warschau

Die 1. Kavalleriearmee wurde erst am 20. August nach Warschau geschickt, nachdem die Westfront zerschlagen worden war, doch es war zu spät. Von den Polen verfolgt, begannen die sowjetischen Truppen, sich umfassend zurückzuziehen. Am 12. Oktober besetzte die polnische Armee erneut Minsk. 

Beide Länder waren inzwischen am Ende ihrer Kräfte, so setzten sie sich bald an den Verhandlungstisch. Doch nun waren es die Polen, die sich weigerten, die Curzon-Linie zu akzeptieren. 

Infanterie der polnischen Armee während der Schlacht von Warschau

Infolge des am 18. März 1921 unterzeichneten Friedens von Riga wurden Polen ausgedehnte Gebiete in der Westukraine und in West-Weißrussland zugewiesen, inklusive der dort lebenden nichtpolnischen Bevölkerung. 

Unglücklicherweise für Warschau hielt die Wiederbelebung des polnischen Großmachtstatus nicht lange an. Die Führung Sowjetrusslands (die ab 1922 zur Sowjetunion wurde) akzeptierte diesen Zustand nie. Weniger als 20 Jahre später holte sie sich die Länder im Zweiten Weltkrieg zurück.

Józef Piłsudski

>>> Kampf um die Vorherrschaft: Wie Polen beinahe Russland eroberte

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