Kindersoldaten: Russische Jungen und Mädchen kämpften freiwillig im Ersten Weltkrieg

Geschichte
BORIS JEGOROW
Mit großem Einsatz kämpften im Ersten Weltkrieg Kinder und Jugendliche in den Reihen der russischen Armee.

Das Russische Reich begrüßte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit großer Begeisterung. Die Russen glaubten an einen schnellen und umfassenden Sieg über Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Menschen wollten unbedingt an der Front kämpfen, um sich ihren Anteil am Ruhm zu sichern. Darunter waren auch viele, die unter 19 Jahre alt und damit offiziell zu jung für die Armee waren. 

Tausende Kinder, manche erst neun Jahre alt, brachen die Schule ab, um zu kämpfen. Sie kamen aus Städten und Dörfern, allein und in Gruppen. Kadetten, Studenten und auch die Schulkinder wollten an vorderster Front stehen. „Nach so vielen Jahrhunderten gibt es wieder einen Kinderkreuzzug!“ schrieb Kornei Tschukowski 1915 in seinem Aufsatz „Kinder und der Krieg“ und erinnerte damit an die Zeit um 1212. 

Um sich freiwillig zur Armee zu melden brauchten die Kinder die Einwilligung der Eltern, die sie natürlich nicht bekamen. Also liefen sie fort und wurden von der Polizei zurück nach Hause gebracht, nur um wieder wegzulaufen. In der Armee war man nicht immer erfreut über die Kinder. Sie wurden eher als Last denn als Unterstützung betrachtet. Niemand wollte die Verantwortung für sie übernehmen. Die Soldaten bevorzugten Waisenkinder (oder solche, die vorgaben, das zu sein) und Kindern aus dem Hinterland. Mit den Eltern der Bauernkinder gab es meist weniger Probleme als mit denen der Kinder aus der Stadt.  

Kinder, die es mit Schwindeleien an die Front geschafft hatten, stand noch eine andere, ganz legale, Option zur Verfügung. Sie konnten sich der gerade ins Leben gerufenen und vom Staat geförderten Pfadfinderbewegung anschließen. Diese wurde im Hintergrund eingesetzt und begleitete Züge mit Verwundeten, half bei Familien von Soldaten und Vertriebenen oder bei den Bauern, die eingezogen worden waren. Für die jungen Menschen, die vom Heldenstatus träumten, war dies jedoch keine attraktive Vorstellung. 

Wenn es einem Jungen irgendwie gelang, von den Soldaten als „Sohn des Regiments“ akzeptiert zu werden, bestand seine Hauptaufgabe darin, Patronen zu tragen, Berichte an andere Einheiten zu liefern und den Verwundeten zu helfen. Das taten zum Beispiel die Zwillingsbrüder Schenja und Kolja (Nachname unbekannt) aus Odessa. Sie halfen in Krankenhäusern. 

Andere Kinder, die freiwillig an der Front kämpften, hatten gefährlichere Jobs. Sie waren als Späher in feindlichem Gebiet unterwegs. Sie erregten weniger Verdacht als Erwachsene. Einige taten sich auch auf dem Schlachtfeld hervor. Der 15-jährige Kadett Georgi Lewin führte nicht nur erfolgreich eine Aufklärungsmission durch und setzte eine deutsche Artilleriekanone außer Gefecht, sondern rettete sogar das Leben eines Offiziers. Dafür wurde er mit dem Kreuz des Heiligen Georg geehrt. 

Der zwölfjährige sibirische Pfadfinder Georgi Naumow wurde zweimal verwundet und wegen Tapferkeit zum Unteroffizier befördert. Der erst 11-jährige Kosake Wladimir Wladimirow zog ganz legal in den Krieg, an der Seite seines Vaters, der Kornett in einem Kosakenregiment war. Nachdem sein Vater gefallen war, nahm Wladimir an vielen Aufklärungsoperationen teil. Einmal wurde er gefangen genommen, konnte jedoch fliehen.  

Auch die Mädchen waren in ihrem Wunsch, in den Krieg zu ziehen, nicht weit hinter den Jungen zurück. Meist dienten sie als barmherzige Schwestern. Einige kämpften aber auch auf dem Schlachtfeld. Im Jahr 1914 schnitt die 14-jährige Kira Baschkirowa ihre Zöpfe ab, nahm die Ausweispapiere ihres Cousins Nikolai Popow, und meldete sich als junger Mann bei den Pfadfindern. Kira gelang es lange Zeit, ihre wahre Identität geheim zu halten - bis sie verwundet und auf eine Krankenstation gebracht wurde. Sie wurde von der Front abgezogen, durfte aber ihr Kreuz des Heiligen Georg behalten, das ihr verliehen worden war, weil sie einen feindlichen Soldaten gefangen genommen hatte. Aber Kira war noch nicht fertig. Sie kehrte als Nikolai Popow wieder zur Armee zurück und flog erneut auf. Danach meldete sich das hartnäckige Mädchen unter ihrem eigenen Namen an und diente bis Kriegsende im 30. Sibirischen Infanterieregiment.  

Nicht nur im russischen Reich wollten auch die Kinder kämpfen. Tausende britische Teenager schummelten bei ihrem Alter, um Soldaten zu werden. Der 12-jährige Sidney Lewis kämpfte in der Schlacht an der Somme. Der 13-jährige George Maher konnte sein Alter erfolgreich verbergen, bis er eines Tages unter schwerem Beschuss in Tränen ausbrach. Minderjährige kämpften auch auf der anderen Seite der Front. Eines Tages patrouillierten zwei russische Freiwillige im Wald und trafen auf einen 15-jährigen deutschen Pfadfinder, der mit einem Gewehr bewaffnet war. Er hatte sich verlaufen und war verwirrt. Er ergab sich kampflos. 

Der Erste Weltkrieg hat die Psyche der Erwachsenen gebrochen, ganz zu schweigen von den Kinderseelen. Laut einer russischen Flüchtlingsbehörde „entwickeln Jungen, die in einer Atmosphäre von Blut und Gewalt leben, einen pathologischen Geisteszustand, der auch in Friedenszeiten wahrscheinlich nicht mehr auf eine Behandlung anspricht.“ 

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Geschichte des 14-jährigen Schülers Wassili Speranski aus Tambow. 1915 kam er an die Front. Mehrmals wurde er verwundet und wieder nach Hause geschickt. In der Schule fielen seine Noten ab und Wassili wurde verhaltensauffällig. Nachdem der Schulleiter ihn mehrmals ermahnt hatte, schoss ihm Wassili mit einem Revolver in den Rücken. 

Am Ende des Ersten Weltkriegs waren die Kinder kampferprobte Soldaten. Dies war aus militärischer Sicht keine so schlechte Sache, da sich bereits ein neuer Konflikt abzeichnete: Russland stand kurz vor dem Bürgerkrieg von 1918 bis 1921, einer der schrecklichsten Katastrophen der russischen Geschichte.

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