Chodynka-Tragödie: Tödliche Krönungsfeierlichkeiten

gemeinfrei
Zur Krönung Nikolaus‘ II. sollte auf dem Chodynskoje-Feld eine große Feier stattfinden. Doch Fehler bei der Planung führten zu einem Desaster.

Peter der Große verlegte die russische Hauptstadt 1712 von Moskau nach Sankt Petersburg. Die Krönung der russischen Herrscher fand jedoch weiter in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Moskauer Kremls statt. Der letzte russische Zar, Nikolaus II., wurde am 26. Mai 1896 gekrönt. Seine Regierungszeit begann mit einer Tragödie, die sich während der dreitätigen Feierlichkeiten anlässlich seiner Inthronisierung auf dem Chodynskoje-Feld ereignete. Dort hatten die Moskowiter bereits die Krönungszeremonien von Alexander II. und Alexander III. gefeiert, ohne, dass sich eine Katastrophe ereignete. Der Krönung Nikolaus‘ II. ging jedoch eine Reihe tragischer Fehler voraus.

Die Krönung von Nikolaus II. in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale des Moskauer Kremls

Der erste Fehler war, dass die Organisatoren die Zahl der Besucher unterschätzt hatten. Die Vorbereitungen wurden vom Onkel Nikolaus‘ II., Großherzog Sergei Alexandrowitsch, Generalgouverneur von Moskau, überwacht. Man hatte bereits sehr großzügig geplant, doch es sollte sich herausstellen, dass auch 10 000 Fässer Honigbier und 30 000 Fässer Bier nicht ausreichen sollten. Vorgesehen waren auch mehrere Bühnen für Aufführungen und Ausstellungen. Zudem sollte jeder Besucher ein besonderes Geschenk bekommen: ein Gewürzbrot mit den Initialen von Nikolaus, eine Wurst, Süßigkeiten und Walnüsse, ein Brot des berühmten Moskauer Bäckers Filippow sowie einen Emaille-Becher, der ebenfalls mit Nikolaus‘ Monogramm verziert war. All das wurde in ein Kopftuch eingewickelt.  

Natürlich wollte jeder, der nach Chodynka kam, dieses Geschenk bekommen. Die Organisatoren hatten nicht daran gedacht, dass sich nicht nur die Moskowiter auf den Weg zur Feier machen würden, sondern auch die Bewohner der umliegenden Dörfer. Nach Schätzungen von Zeitgenossen hatten sich bis zu 400.000 Menschen versammelt.  

Wladimir Giljarowskij

Dank eines bekannten Moskauer Reporters, Wladimir Giljarowskij, können wir uns heute ein umfassendes Bild von der Tragödie machen. Seine kurze Reportage „Die Katastrophe auf dem Chodynskoje-Feld“ erschien am Tag nach den tragischen Ereignissen in „Russkie Wedomosti“. 

In seinem Bericht beschreibt Giljarowskij die Örtlichkeiten. Lange Tische mit den Gaben waren in einer Linie vom Moskauer Stadtrand bis zum außerhalb liegenden Wagankowoer Friedhof aufgestellt. Der Reporter hielt dies für einen Fehler und für einen Grund, der zu noch mehr Toten bei der Katastrophe geführt habe. Die Tische standen, teils mit ein wenig Abstand, parallel zu einem tiefen Graben. Zwischen den Tischen und dem Graben lagen nur 20 bis 30 Schritte. 

Giljarowskij war am Abend des 29. Mai in Chodynka angekommen, so wie viele andere auch. Jeder wusste, dass die Geschenke am nächsten Morgen ab zehn Uhr verteilt werden sollten. Und um sicherzugehen, nicht leer auszugehen, waren viele Besucher schon früher angereist. Ab Mittag des 29. Mai versammelten sie sich schon auf dem Feld. Und auch zur Nacht ließ der Zustrom nicht nach.  

Das Volksfest auf dem Chodinka-Feld im Mai 1896

Das Desaster nahm seinen Lauf, nachdem das Personal an den Geschenketischen dem Drängen der Besucher nachgegeben und mit der Verteilung der Präsente begonnen hatte. Das blieb von der Masse nicht unbemerkt und es gab einen großen Ansturm. Der Druck vorne wurde stärker, einige Besucher stürzten und die anderen trampelten sie nieder. Die Geschenkeverteiler begannen damit, die Sachen in die Menge zu werfen und machten die Situation dadurch noch schlimmer. Giljarowskij versuchte immer wieder, zu entkommen. Schließlich trieben mehr als ein Dutzend Kavallerie-Soldaten die Leute auseinander und der Reporter konnte sich in Sicherheit bringen. 

Noch am selben Tag verfasste Giljarowskij seinen Bericht, der am 31. Mai in der Zeitung veröffentlicht wurde. Es war die einzige Reportage über Chodynka, da es verboten wurde, über die Tragödie zu berichten. Der Generalgouverneur hatte nur „Russkie Wedomosti“ die Erlaubnis erteilt. 

Als Sergei Alexandrowitsch von der Katastrophe erfuhr, gab er sofort den Befehl, aufzuräumen. Nikolaus II. würde um 14 Uhr mit seiner Frau eintreffen, also mussten zu diesem Zeitpunkt alle Spuren beseitigt sein. Überall in Chodynka lagen die Toten, einige auch noch weit vom Feld entfernt. Der Schock hatte sie ihre Schmerzen nicht fühlen lassen und sie hatten es geschafft, sich noch ein Stück weiterzubewegen, bevor sie starben. Nach offiziellen Schätzungen forderte die Chodynka-Katastrophe 1389 Menschenleben. Mehr als 900 Personen wurden verletzt.

Auf dem Weg nach Chodynka sahen der neue Kaiser und seine Frau die Karren mit Leichen und Verletzten. Nikolaus II. war bereits informiert worden und sehr wütend. Später schrieb er in sein Tagebuch: „Diese Nachricht hat bei mir einen ekelhaften Eindruck hinterlassen“. Doch er hatte beschlossen, die Feierlichkeiten fortzusetzen. In Chodynka wurde die Hymne gespielt. Die Leute bejubelten den Zaren und seine Frau. Am Abend besuchte Nikolaus II. einen Ball, zu dem der französische Botschafter geladen hatte. Sein Finanzminister Sergei Witte erinnerte sich in seinen Memoiren: „Seine Majestät hat diesen Ball jedoch bald wieder verlassen… offensichtlich hat die Katastrophe bei ihm einen starken Eindruck hinterlassen.“

Die Familien der Opfer erhielten Geld als Entschädigung, der Kaiser und die Kaiserin besuchten die Verletzten am nächsten Tag in den Krankenhäusern. Dennoch war Nikolaus‘ Autorität untergraben. Die Moskauer Gesellschaft betrachtete seine Entscheidung, die Feierlichkeiten forstzusetzen, als Missachtung der Opfer.

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