Russland war vor dem 20. Jahrhundert größtenteils ein Agrarland. Den entscheidenden Anteil an den Exporten hatten Rohstoffe und dabei vor allem Hanf, eine Pflanze der Gattung Cannabis Sativa. Die Pflanzenstämme, die in Zentralrussland angebaut wurden, enthielten wenig Tetrahydrocannabinol, den psychoaktiven Hauptbestandteil der Pflanze, so dass die Russen es als Rauschmittel nicht nutzen konnten. Der Staat hat dennoch gut daran verdient. Russland versorgte seinen größten Konkurrenten in der Seefahrt, Großbritannien, mit Hanf. Die Briten machten daraus Takelagen für ihre Flotte.
Papier und Harnische, Taue und Seile
Cannabis Sativa ist eine der am schnellsten wachsenden Pflanzen. Hanf ist das Produkt aus der Pflanze Cannabis sativa L. subsp., eine Gattung der Pflanze, die für industrielle Zwecke verwendet wird. Hanf wird hergestellt, indem die Stängel der Pflanze in Wasser eingeweicht werden. Die dabei entstehende Faser hat einzigartige physikalische Eigenschaften: Sie ist zu dick, um von Parasiten gefressen zu werden, und so robust, dass die daraus hergestellten Waren außergewöhnlich langlebig sind: Stoffe für Kleidung und Bettwäsche, Seile und Geschirre für Pferde. Hanf verrottet auch in salzigem Meerwasser nicht, was ihn zu einem perfekten Material für Marine-Takelage und Segel macht.
Männliche Cannabispflanzen werden hauptsächlich zur Herstellung von Industriehanf verwendet, da sie größer und dicker sind und keine Samen enthalten, die die Herstellung von Hanffasern komplizierter machen. Warum war die Hanfproduktion im traditionellen Russland so weit verbreitet?
Wie durch Takelage aus Feinden Freunde wurden
Industriehanf wird in den russischen Ländern seit vorchristlicher Zeit für die Herstellung von Kleidung, Fischernetzen und Seilen angebaut, später für die Herstellung von Pferdegeschirren und Harnische. Die Bauern aßen mit Hanföl zubereitetes Essen, da Sonnenblumenöl in den zentralen und nördlichen Regionen nicht weit verbreitet war.
Ab dem 16. Jahrhundert produzierte der russische Staat mehr Hanf als für den Eigenbedarf nötig, weil sich neue Exportmärkte erschlossen.
Im 16. Jahrhundert etablierte der britische Seefahrer Richard Chancellor den Handel mit dem Zaren von Russland. Ab dieser Zeit importierten die Briten russischen Hanf. Aber die Blütezeit erlebten die Geschäfte erst unter der Herrschaft von Peter dem Großen.
In den 1710er Jahren war der Große Nordische Krieg zwischen Schweden und der Koalition von Russland, Dänemark-Norwegen und Sachsen-Polen in vollem Gange. Großbritannien mischte sich erst 1717 ein, unterstützte jedoch schon früher die russische Seite wegen Hanf.
>>> So wurde Russland zur Großmacht: Fünf Fakten über den Großen Nordischen Krieg
Geschäft und Krieg gehen manchmal unterschiedliche Wege. Großbritannien brauchte Holz, Eisen und Hanf, um seine Seemacht zu stärken. Vor dem Großen Nordischen Krieg kaufte Großbritannien beides hauptsächlich aus Schweden, leistete den Schweden jedoch während des Krieges keinen Beistand gegen die Russen. Verärgert darüber erhöhte Karl XII. von Schweden die Preise für Hanf und Eisen.
1715 begann Großbritannien, Eisen aus Russland zu importieren, und Peter sah die Chance, auch Hanf zu exportieren. Im selben Jahr erteilte der russische Zar den Befehl, die Hanfproduktion zu steigern, und bot den Briten gleichzeitig niedrigere Preise als Schweden an: Während die Schweden eine Tonne Hanf für 22 Pfund verkauften, bot Peter sie für sechs Pfund an. Britische Marineoffiziere bescheinigtem dem russischen Hanf zudem eine bessere Qualität als dem schwedischen.
Zusammen mit dem Versand kostete die Briten eine Tonne russischer Hanf nur etwa zehn Pfund. Dazu kam, dass die Vorräte an russischem Hanf im Gegensatz zu Schwedens relativ dürftigen Beständen endlos schienen. Durch den Schutz seiner Handelsschiffe, die durch von Schweden kontrollierte Gewässer an die russische Ostseeküste gelangen mussten, stand Großbritannien im Krieg auf russischer Seite. 1715 kamen 200 englische Handelsschiffe in St. Petersburg und Riga an, kauften enorme Mengen Hanf und Seile und versorgten Russland mit Geld, um den Krieg fortzusetzen.
Der russische Hanfexport
Schweden wurde 1721 besiegt und Russland wurde ein Imperium. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Russland der einzige Hanfexporteur nach Großbritannien (96 Prozent der britischen Takelage bestand aus russischem Hanf), während politisch die beiden europäischen Supermächte im 18. Jahrhundert in vielen Kriegen gegeneinander antraten.
Im 18. Jahrhundert wurden jährlich über 32.000 Tonnen Hanf aus Russland exportiert. Aber im frühen 19. Jahrhundert begann Großbritannien, Baumwolle aus Amerika zu importieren, und Jutefasern, die in der Produktion billiger waren, wurden für die Takelage der Marine verwendet. Die russischen Hanfimporte nach Großbritannien gingen zurück. Dennoch exportierte Russland weiterhin Hanf in mehr als zehn Länder in Europa. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte Hanf zwischen 50 und 74 Prozent der russischen Exporte aus, und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts produzierte Russland 140.000 Tonnen Hanf: 40 Prozent des gesamten in Europa produzierten Hanfs.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Jute-Takelage fast überall die Hanf-Takelage ersetzt, und Dampfschiffe, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurden, ersetzten Segelschiffe. Damit ging die russische Ära als Hanf-Macht zu Ende. Bis heute trägt die Stadt Dmitrowsk in der Region Orjol das Bild einer Cannabispflanze auf ihrem Emblem, was daran erinnert, dass diese Region in früheren Zeiten führend in der Hanfproduktion war.