Quarantäne im alten Kaukasus: Rückzug in die Stadt der Toten

Geschichte
JOSH NADEAU
Wenn Sie glauben, dass die Quarantänemaßnahmen in Ihrem Land streng sind, dann denken Sie an das Dorf Dargaws im Kaukasus. Dort mussten sich Infizierte zu den Toten in die Gruft begeben. Oft kamen sie nicht zurück.

Das Gizeldon-Tal in Nordossetien hat im Vergleich zu vielen der umliegenden Gebiete etwas ganz Besonderes zu bieten. Die Touristen haben dort ein ganz bestimmtes Ziel: die Nekropole Dargaws außerhalb des gleichnamigen Dorfes. 

Die knapp 100 steinernen Grüfte dienten den alten ossetischen Familien als letzte Ruhestätte auf dem Weg ins Jenseits. Einige der Körper ruhen auch in bootförmigen Särgen, was Archäologen vermuten lässt, dass die Menschen vielleicht geglaubt haben, dass das Durchqueren der Unterwelt gleichbedeutend ist mit einer spirituellen Reise. Ein nahegelegener Turm, der langsam verfällt, wacht über den Hügel und trägt zum melancholischen Bild bei. 

Auf den ersten Blick scheint das der perfekte Ort, um alle Gedanken an Covid-19 zu verdrängen. Doch wer hier das Virus einmal vergessen will, hat kein Glück. Denn wie sich herausstellt, diente die Nekropole von Dargaws in der Antike als Quarantänestation.  

Exil für Cholerakranke 

Die Grüfte standen lange Zeit auf dem Hügel. Die Daten sind nicht gesichert, doch einige Experten schätzen, dass die ersten zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert erbaut wurden. Es waren die Grabstätten alter ossetischer (oder, je nachdem, wen Sie fragen, inguschischer) Familien. Aber als im 18. Jahrhundert eine Welle von Seuchen - höchstwahrscheinlich Cholera -das Gebiet traf, fanden die Einheimischen eine andere Verwendung für sie. Die Isolation von Kranken wurde zu einer Frage von Leben und Tod. Reiche Familien konnten für eine isolierte Unterbringung ihrer Kranken selbst sorgen. Die armen Menschen, die infiziert waren, gingen nach Dargaws und zogen sich in die Totenhäuser zurück. 

Nach einer Legende sollen die Grüfte aber entstanden sein, weil Dwargas verflucht gewesen sein soll. Die Männer des Dorfes stritten sich um eine schöne Frau, die eines Tages auf mysteriöse Weise in Dargaws auftauchte und allen den Kopf verdrehte. Sie vernachlässigten ihre Arbeit, warben um die Gunst der Schönen und traten in tödlichen Duellen gegeneinander an. Selbst alte Männer verloren den Verstand bei ihrem Anblick. Die einheimischen Frauen, vielleicht aus Neid, nannten sie eine Hexe. Die Männer töteten sie schließlich, damit niemand außer Gott sie haben könne. 

Leider traf bald die Pest das Tal, möglicherweise als Strafe für diese Sünde, und sogar der Boden weigerte sich, die Verstorbenen aufzunehmen. Daher wurden oberirdisch Gräber gebaut. Die Grüfte entstanden, die bis heute erhalten geblieben sind. 

Die Totenhäuser wurden mit schmalen fensterähnlichen Öffnungen errichtet, durch die die Toten in ihre letzte Ruhestätte gelangten. Die Cholera-Infizierten im 18. Jahrhundert krochen über diese Öffnungen und ließen sich von ihren Verwandten Essen bringen. Da es für viele Plagen dieser Tage keine Heilung gab (geschweige denn Impfstoffe), lebten die Menschen zwischen den Knochen, bis sie selbst starben. Vor einigen Grüften stehen Brunnen. Es heißt, wenn man eine Münze hineinwirft und diese auf einen Stein trifft, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Seele des Verstorbenen es in den Himmel geschafft hat. Für die meisten war dies der einzige Trost. 

Quarantäne in der heutigen Zeit 

Wenn Sie sich durch die Quarantänevorschriften in Ihrer Stadt beeinträchtigt fühlen, stellen Sie sich vor, Sie wären im Ossetien des 18. Jahrhunderts geboren. Keine digitalen Pässe, keine Antikörpertests und schon gar kein Netflix, um sich die Zeit zu vertreiben.

Aber die Menschen hier scheinen alte und neue Epidemien gelassen zu nehmen. In den Tälern herrscht wenig Verkehr, insbesondere, seitdem weniger Touristen kommen. Immer wieder hört man, dass das Virus irgendwo „da draußen“ sei, in Moskau oder im nahe gelegenen Wladikawkas. Sie sehen wenige Maskenträger und die Männer schütteln sich zur Begrüßung noch immer die Hände (Frauen machen das in Russland eher selten). Auch sonst ist alles beim Alten geblieben: Wenn Sie in die Totenstadt wollen, müssen Sie 100 Rubel Eintritt zahlen. Es sei denn, die Kassiererin macht gerade Kaffeepause oder hat Feierabend. Dann wird sie sich kaum noch dafür interessieren, wohin Ihr Weg Sie führt. 

Der entspannte Umgang mit Fragen der nationalen Gesundheit (so problematisch sie auch sein mögen) ist ein Zeichen dafür, dass das Tal die „Apokalypse“ zu oft hat kommen und gehen sehen. 

Wie die Kaukasusrepublik ein Teil Russlands wurde 

Der offizielle Name der Region lautet Republik Nordossetien-Alanien, wobei Alanien die Bezeichnung für ein altes Reich ist, von dem die Osseten behaupten, abzustammen. Islam Sasiew, Direktor des Nekropolen-Museumskomplexes, sagt, dass ein nahegelegener Fluss, die Kizilka (bedeutet in der Landessprache „rot“), den Namen nach einem Kampf zwischen den alanischen Soldaten gegen eine tatarisch-mongolische Armee im Jahr 1395 erhielt. Blut floss in den Fluss und färbte ihn rot. Das besiegte einstige Reich bestand nur noch aus einigen Tälern. Es sollte durch Kämpfe gegen die Osmanen, die Tataren und andere weiter aufsteigen und wieder untergehen, bis es im 17. Jahrhundert vom Russischen Reich annektiert wurde. Das Verständnis der lokalen Grenzen war verständlicherweise fließend.

Die jüngste Geschichte war für Ossetien nicht freundlicher. Es wurde zwischen Russland und Georgien aufgeteilt, als die UdSSR in den 1990er Jahren zerfiel. Ethnische Spannungen, insbesondere mit Georgien und dem benachbarten Inguschetien, führten zu tragischen Ereignissen, etwa dem Angriff auf eine Schule in Beslan im Jahr 2004 oder zum Krieg zwischen Südossetien, Georgien und Russland im Jahr 2008. Häufig eskalierten die Unstimmigkeiten. Die Dörfer hatten sich längst daran gewöhnt, dass es immer mal wieder zu Gewaltausbrüchen kam. 

Und vielleicht ist Dargaws deshalb so faszinierend: Es steht für Stärke und zugleich für den Schmerz. Es wird einen erneuten Untergang überleben, genauso wie wir das Virus überleben werden. Vielleicht wird sich vieles ändern, aber vielleicht sind wir dann auch besser für eine neue Welt gerüstet. 

>>> Wo in Russland liegt die gruselige „Stadt der Toten“? (BILDER)