Evakuierung von Tallinn: Die größte Tragödie in der Geschichte der sowjetischen Marine

Geschichte
BORIS JEGOROW
Im August 1941 erlebte die sowjetische Marine einige der dunkelsten Tage ihrer Geschichte. Die Baltische Rotbannerflotte machte sich auf den Weg von Tallinn nach Kronstadt. Doch Minen versperrten ihr den Weg. Am Ende waren über 50 Schiffe verloren und mehr als 10.000 Opfer zu beklagen.

In der Falle 

Tallinn wurde kurz nach dem Beitritt der baltischen Staaten zur UdSSR im Jahr 1940 zum Hauptstützpunkt der sowjetischen Ostseeflotte. Die Stadt war gut vorbereitet, Angriffe vom Meer und aus der Luft abzuwehren. Das schwache Glied in der Verteidigung waren die Befestigungen an Land, da sich niemand vorstellen konnte, dass ein Feind Litauen und Lettland durchqueren und die Hauptstadt Estlands erreichen könnte.

Doch genau dies passierte. Bereits Anfang Juli drang die Heeresgruppe Nord der deutschen Wehrmacht auf estnisches Gebiet vor und erreichte am 7. August die Küste des Finnischen Meerbusens. Auf dem Landweg war die Stadt Tallinn nun von den Hauptstreitkräften der Roten Armee abgeschnitten. Noch sah das sowjetische Kommando keine Notwendigkeit, die Stadt zu evakuieren und war entschlossen, Tallinn zu verteidigen. Jedoch waren dort lediglich das 10. Sowjetische Schützenkorps stationiert sowie NKWD-Einheiten und örtliche Verteidigungskräfte. 

Am 25. August wurde die Situation kritisch - die sowjetischen Truppen waren bis zur Hauptverteidigungslinie in der Nähe von Tallinn zurückgedrängt worden. Die deutsche Artillerie konnte mit ihren Granaten die gesamte Stadt und den Hafen erreichen. Die Schiffe der baltischen Flotte konnten nun aber auch den Feind treffen. Diese Unterstützung war hilfreich für die sowjetischen Truppen, die die Evakuierung der baltischen Flotte vorbereiteten, die ihr Kommandeur Wladimir Tributz am 27. August anordnete. 

Evakuierung 

Einen ganzen Tag und eine Nacht nahm das Einschiffen in Anspruch. Es herrschte eine chaotische Atmosphäre und Planlosigkeit. Die Panik verschärfte die Situation weiter. In den Straßen der Stadt tobten bereits erste Kämpfe.  

Die Schiffe waren überladen, an Bord war nicht genügend Platz für die vielen Soldaten und die Schiffsbesatzung. Die Evakuierung von militärischer Hardware war nicht einmal eine Option: Die Maschinerie wurde einfach ins Meer geworfen oder in die Luft gesprengt. Viele Einheiten der Roten Armee kämpfen auf den Straßen gegen den Feind. Als die Deutschen schließlich Tallinn besetzten, nahmen sie etwa 11.000 sowjetische Soldaten gefangen.

Am 28. August verließen 225 Schiffe der Ostseeflotte in vier Konvois Tallinn mit dem Marinestützpunkt Kronstadt bei Leningrad als Ziel. Nach verschiedenen Schätzungen befanden sich 20.000 bis 41.000 Menschen an Bord der Schiffe, darunter Soldaten des 10. Schützenkorps, Zivilisten und die Führung Sowjet-Estlands. 

Die Katastrophe 

Die Kommandeure der baltischen Flotte waren sich bewusst, dass die Deutschen und Finnen seit Juli Minenfelder im Finnischen Meerbusen errichtet hatten. Die sowjetischen Schiffe mussten hindurch, was zur Katastrophe führte.

Die Konvois bewegten sich äußerst vorsichtig hinter Minensuchbooten. Oft mussten die sowjetischen Schiffe jedoch dem Feuer der feindlichen Küstenartillerie der finnischen Torpedoboote ausweichen und trafen bei diesem Manöver auf eine Mine. Binnen von Minuten ging ein getroffenes Schiff unter. Deutsche Schiffe waren an den Kämpfen auf See nicht beteiligt. 

Die sich langsam fortbewegenden Schiffe waren ein leichtes Ziel für die Flugzeuge der Luftwaffe. Und selbst, wenn ein deutscher Pilot ein Schiff nicht versenken konnte, erledigten die Minen diese Aufgabe. Sowjetische Flugzeuge waren nicht am Himmel. Die Evakuierung fand zu einem Zeitpunkt statt, als alle Landebahnen in der Nähe von Tallinn bereits an den Feind verloren waren. Kampfflugzeuge hätten den Konvoi erst auf dem letzten Abschnitt der Reise schützen können. 

Das Flottenkommando verlor fast unmittelbar nach dem Verlassen von Tallinn die Kontrolle über die Operation. Die Schiffe waren nun auf sich allein gestellt und ein Schiff nach dem anderen fiel den Minen zum Opfer. Die wenigen Minensuchboote, die nachts operieren mussten, trafen selbst oft auf eine Mine und gingen unter. Die Nachhut, die ganz ohne die Unterstützung von Minensuchbooten navigieren musste, wurde fast vollständig zerstört (fünf von sechs Schiffen). 

Die Verluste waren enorm. Von 1.280 Menschen an Bord des versunkenen Transportschiffs „Alev“ überlebten zum Beispiel nur sechs. Dennoch gelang es den Seeleuten, unter den ständigen Angriffen deutscher Flugzeuge, über 9.000 Menschen lebend aus dem Wasser zu retten. Erst als die sowjetische Luftfahrt bei Kronstadt am Himmel erschien, konnte sich die Baltische Flotte wieder sicherer fühlen. 

Vom Regen in die Traufe 

Im Laufe der drei Tage, die die Evakuierung von Tallinn nach Kronstadt in Anspruch nahm, verlor die Ostseeflotte 50 bis 62 Schiffe, darunter Zerstörer, U-Boote, Minensuchboote, Patrouillenboote, Küstenwachen-Boote und Torpedoboote. Die meisten verlorenen Schiffe (über 40) waren jedoch Transport- und Hilfsschiffe. Die Deutschen verloren im Vergleich dazu lediglich zehn Flugzeuge.

Bei der Operation kamen zwischen 11.000 und 15.000 Menschen ums Leben. Neben Zivilisten gehörten dazu viele Soldaten und Seeleute.

Trotz schwerer Verluste gelang es der Baltischen Flotte als kampfbereite Einheit zu überleben. Nach dieser schrecklichen Tortur blieb jedoch nicht viel Zeit zur Erholung. Nur eine Woche später begannen heftige Kämpfe um Leningrad, bei denen die Baltische Flotte eine bedeutende Rolle spielen sollte.

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