Schiffsreise um die halbe Welt: Wie die Amerikaner 800 Kinder im russischen Bürgerkrieg retteten

Am 18. Mai 1918 machten sich 800 Kinder aus Petrograd auf den Weg in ein Sommercamp. Sie ahnten noch nicht, dass sie erst fast drei Jahre später wieder nach Hause zurückkehren sollten und in der Zwischenzeit die halbe Welt kennenlernen würden.

Verlassen 

Im November 1917 erlebte Petrograd (heutiges St. Petersburg) die bolschewistische Revolution, gefolgt von einem harten Winter und Nahrungsmittelknappheit. Im Frühjahr beschlossen die Bildungseinrichtungen der Stadt zusammen mit den Eltern der Schüler, 11.000 Kinder in Sommercamps zu schicken, wo die durch Hunger geschwächten Kinder wieder aufgepäppelt werden sollten. Etwa 800 von ihnen machten sich in Begleitung mehrerer hundert Betreuer auf den Weg in den Ural.

Wie sich herausstellte, hätten sie keinen schlechteren Zeitpunkt für die Reise wählen können. Als die Züge mit den Kindern Richtung Osten fuhren, war dort ein anti-bolschewistischer Aufstand in vollem Gange. Die Kinder befanden sich im Epizentrum der Feindseligkeiten und mussten schreckliche Dinge mit ansehen und erleben. „In den Straßen wurde geschossen. Wir versteckten uns in den Zimmern und sahen mit Schrecken zu, wie Soldaten mit ihren Bajonetten die Matratzen anhoben“, erinnerte sich (rus) ein Mädchen. 

Ende 1918 befanden sich die Petrograder Schulkinder im Rücken von Alexander Koltschaks weißen Armeen, die nach Westen vorrückten, und es war ihnen unmöglich, wieder nach Hause zurückzukehren. Das Geld und die Lebensmittelvorräte gingen schnell zur Neige, und die Kinder trugen nur Sommerkleidung, als der Winter schon näher rückte.

Die Rettung 

Gänzlich unerwartet interessierte sich das damals in Russland tätige amerikanische Rote Kreuz für das Schicksal der Schulkinder. Es sammelte die Kinder aus allen Camps und brachte sie alle zusammen in der Nähe der Stadt Miass im südlichen Ural unter. Dieses Camp stand nun unter dem Schutz des Roten Kreuzes. Die Kinder bekamen warme Kleidung, regelmäßige Mahlzeiten und sogar Unterricht. 

Wann immer möglich, informierten die Amerikaner die sowjetische Regierung über die Situation im Camp und leiteten Briefe der Kinder an ihre Eltern weiter, die in Petrograd voller Sorge auf Lebenszeichen warteten. Eine Evakuierung der Kinder war zunächst aber nicht möglich. 

Nach der Niederlage von Koltschak im Sommer 1919 und als sich die Rote Armee dem Gebiet näherte, in dem sich das Camp befand, beschloss das Amerikanische Rote Kreuz, die Kinder aus dem Kriegsgebiet nach Russkij Island in der Nähe von Wladiwostok zu bringen.

Im Frühjahr 1920 begannen die USA, ihre Soldaten aus dem russischen Fernen Osten zu evakuieren. Die Rotes-Kreuz-Mitarbeiter verließen mit ihnen das Land. Sie wollten die Kinder nicht sich selbst überlassen, hatten aber nicht die Möglichkeit, sie mitzunehmen. Die Amerikaner wandten sich an die Japaner, nachdem sie beschlossen hatten, die Kinder nach Frankreich zu evakuieren.

Riley Allen, der für das Rote Kreuz arbeitete, schaffte es, einen japanischen Frachter zu chartern. Der Schiffseigner Ginjiro Katsuta rüstete das Schiff auf eigene Kosten für die Evakuierung der jungen Passagiere um: Betten und Ventilatoren wurden installiert und eine Krankenstation eingerichtet.

Am 13. Juli 1920 verließ die „Yomei Maru“ unter den Flaggen Japans und der USA und mit einem riesigen roten Kreuz am Schornstein den Hafen von Wladiwostok. Erst später stellte sich heraus, dass die Kinder eine Reise um die halbe Welt erwartete und das Schiff eine Weile ihr zu Hause sein würde, bevor sie in die Heimat zurückkehren konnten. 

Einmal um die halbe Welt 

Das Schiff überquerte den Pazifik und fuhr zunächst nach San Francisco und von dort über den Panamakanal nach New York. Die jungen Passagiere erregten die breite Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit. In ihren Anlaufhäfen wurden sie von einer Menge Journalisten empfangen. „Verschiedene New Yorker Organisationen haben unsere Kinder jeden Tag unterhalten. Eine Bootsfahrt entlang des Flusses Hudson, eine Party im Bronx Park und eine Stadtrundfahrt mit Autos wurden organisiert“, erinnerte sich (rus) der Kapitän des japanischen Schiffes, Motoji Kayahara.

Wegen des andauernden Bürgerkriegs in Russland hatte das amerikanische Rote Kreuz geplant, die Petrograder Kinder für einige Zeit in Frankreich unterzubringen, wo bereits eine Unterkunft für sie vorbereitet worden war. Die Entscheidung stieß jedoch bei den Kindern und vielen Sympathisanten auf starken Widerstand. Zusammen mit ihren Betreuern verfassten sie eine Nachricht an die Amerikaner.

„Wir können nicht in einen Staat gehen, dessen Aktionen dazu geführt haben, dass russische Staatsangehörige infolge der Wirtschaftsblockade Sowjetrusslands durch die Entente-Mächte zu Zehntausenden und Hunderttausenden starben und weiterhin sterben. Kriegswaffen, die Frankreich nach Polen geschickt hat, haben Hunderttausenden junger russischer Soldaten das Leben genommen und noch immer dauert der sowjetisch-polnische Krieg an“, heißt es in dem von 400 Menschen unterzeichneten Apell. 

Am Ende wurde beschlossen, die Kinder zunächst nach Finnland zu bringen, einen Nachbarstaat Sowjetrusslands. Die Ostsee, in der seit dem Ersten Weltkrieg Dutzende von Minen trieben, war der gefährlichste Abschnitt der Reise. Das Schiff kam nur langsam voran und musste ständig den Kurs ändern. 

Am 10. Oktober 1920 erreichte die „Yomei Maru“ den finnischen Hafen Koivisto, wo die lange Reise endete. Von hier aus wurden die Kinder in Gruppen an verschiedenen Grenzkontrollpunkten der sowjetischen Seite übergeben.

Das letzte der reisenden Schulkinder kehrte im Februar 1921 nach Hause zurück. Es kam am selben Bahnhof an, an dem es Petrograd fast drei Jahre zuvor verlassen hatte. Nur war es inzwischen reifer und erwachsener geworden. 

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