Kalifornien am Amur: Russische Goldgräber gründeten in China heimlich einen Staat

Geschichte
BORIS JEGOROW
Unbemerkt von den Chinesen gründeten russische Goldsucher auf chinesischem Territorium einen Staat im Staate. Es dauerte fast ein Jahr, bis die Chinesen von der Republik Scheltuga Wind bekamen.

Ende des 19. Jahrhunderts erfasste ein Goldrausch den Fernen Osten des Russischen Reiches und die benachbarten nördlichen Gebiete Chinas.

Zehntausende von „freien Goldgräbern“ suchten nach Gold, das war nicht immer legal. Manchmal entstanden um eine Goldmine herum staatenähnliche Strukturen wie zum Beispiel die Republik Scheltuga auf dem Territorium der chinesischen Mandschurei - zu dieser Zeit auch als „Kalifornien am Amur“ oder einfach Scheltuga bekannt. Diese Republik wurde von russischen Goldsuchern gegründet.

Von Chaos zu Ordnung 

Die Geschichte des „Kaliforniens am Amur“ reicht bis ins Frühjahr 1883 zurück, als am Fluss Scheltuga auf chinesischem Territorium die Einheimischen auf mehrere hochwertige Goldnuggets stießen. Da das nächstgrößere chinesische Bevölkerungszentrum, Aigun (das heutige Aihui), Hunderte von Kilometern entfernt lag, während sich jenseits der Grenze russische Siedlungen gleich auf der anderen Seite des Flusses Amur befanden, waren es russische Goldgräber, die diesen Ort schnell als Basis wählten. 

Abgesehen von den Goldschürfern strömten alle möglichen Abenteurer, Betrüger und Banditen dorthin. Anstatt die Goldminen auf methodische und geordnete Weise auszubeuten, zerstörten die Prospektoren die Lagerstätten durch unsachgemäß angelegte Gruben und machten sie für die weitere Ausbeutung unbrauchbar. Doch sie waren in Eile und wussten, dass chinesische Truppen jederzeit eintreffen konnten.

Später stellte sich jedoch heraus, dass Peking gar nichts von der Existenz der russischen Kolonie wusste. Die Bewohner von Scheltuga kamen zu dem Schluss, dass sie sich auf lange Sicht in der Mandschurei niederlassen könnten, und beschlossen, zunächst Struktur in die Kolonie zu bringen.

Staat im Staat 

Scheltuga war in fünf Bezirke unterteilt: vier russische und einen chinesischen. Aus jedem Distrikt wurden zwei Vorsteher gewählt, die gemeinsam die Regierungsverwaltung der Kolonie bildeten. Das gesamte politische Leben fand auf dem zentralen Platz statt, wo die schwarz-gelbe Flagge des „Staates“ (die Farben standen für die Vereinigung von Land und Gold) wehte und ein Galgen für besonders widerspenstige Bürger stand.

Die Republik Scheltuga hatte ein eigenes Gericht, einen Schatzmeister und eine bis zu 150 Mann starke Strafverfolgungsbehörde. Der „Staat“ wurde von einem gewählten Präsidenten geführt. Der erste Inhaber des Postens war der aus Österreich-Ungarn stammende Karl Johann Fasse, der im „Kalifornien am Amur“ entschlossen und rücksichtslos für Ordnung sorgte. 

Blütezeit 

Die Bevölkerung in dem nun straff geführten „Staat“ wuchs im Laufe eines Jahres von mehreren hundert auf 9.000. Die höchste Einwohnerzahl während des Bestehens der Siedlung betrug 20.000. Russisch wurde zur Amtssprache, weil die Mehrheit der Bewohner Russen war. Die Kommunikation mit den Chinesen erfolgte in einer vereinfachten Sprache - dem sogenannten Kyachta Pidgin.

Wie Pilze nach dem Regen entstanden Geschäfte, Badehäuser, Juweliere, Tavernen, Glücksspielhäuser und Hotels für die zahlreichen russischen und chinesischen Goldhändler. Die Kolonie hatte sogar ein eigenes Theater und ein eigenes Fotolabor. Sie alle zahlten Steuern, die für soziale Zwecke ausgegeben wurden. Zum Beispiel wurde aus diesen Mitteln ein Krankenhaus gebaut. Die Republik Scheltuga wuchs und gedieh.

Auslöschung 

Es dauerte fast ein Jahr, bevor die chinesischen Behörden Kenntnis von der Existenz der Republik Scheltuga erlangten. Beamte in Russland wussten schon früher Bescheid und arbeiteten inoffiziell mit der Republik zusammen. Auf offizieller Ebene sagten sie den Chinesen, sie hätten noch nie von einem solchen „Staat“ gehört, und wenn es so etwas gäbe, wären sie nicht befugt, sich in Chinas innere Angelegenheiten einzumischen.

Russland gab China damit effektiv einen Freibrief, um mit den „Amur-Kaliforniern“ nach Belieben zu verfahren. Gleichzeitig wurden Kosakendivisionen entsandt, um die Goldschürfer zu warnen, dass sie keinen staatlichen militärischen Schutz erwarten könnten und dass sie das chinesische Territorium sofort verlassen sollten.

Im Februar 1885 erschien in der Umgebung von Scheltuga die erste Aufklärungsabteilung chinesischer Truppen. Am 18. August desselben Jahres besuchte ein Qing-Offizier die Republik, um die Räumung des Gebiets innerhalb von acht Tagen zu fordern. Die Kolonie begann sich aufzulösen. Nach Ablauf der Frist kam die Qing-Armee in ein fast verlassenes Scheltuga, brannte einige Wohnhäuser nieder und enthauptete mehrere Chinesen, die sich hier versteckten. Aber nachdem sie gegangen waren, kehrten die „Amur-Kalifornier“ zurück.

Als Peking davon erfuhr, sandte es im Januar 1886 1.600 Soldaten mit dem Befehl, die Kolonie niederzubrennen, die Russen auf die andere Seite des Amur zu treiben und die in der Siedlung lebenden Chinesen hinzurichten. Diesmal gelang es den Bewohnern von Scheltuga nicht, die Chinesen auszutricksen. Um die Beziehungen zu Russland nicht zu verschlechtern, wurde den Bürgern von Scheltuga ein ungehinderter Rückzug ermöglicht. 

Nach der Zerstörung des „Kalifornien am Amur“ verteilten sich die Goldschürfer im gesamten russischen Fernen Osten. Sie versuchten, neue freie „Republiken“ in der Nähe von Goldvorkommen zu gründen, wurden jedoch von den örtlichen Behörden vertrieben. Das Problem des illegalen Goldabbaus wurde in Russland erst Anfang der 1930er Jahre von den Bolschewiki endgültig gelöst.