Wie die Sowjetunion Japan half, ein tödliches Virus zu besiegen

Geschichte
OLEG JEGOROW
Den Amerikanern war die Entwicklung eines hochwirksamen Vakzins gegen Polio gelungen, der in der UdSSR getestet und weiterentwickelt wurde. Auf der Suche nach Hilfe im Kampf gegen das gefährliche Virus, wandte sich Japan an Moskau.

Japanische Wochenschauen (jp) von 1961 zeigen lange Warteschlangen an Impfstationen. Besorgt aussehende Frauen halten Babys in den Armen und ältere Kinder stehen neben ihren Eltern, während Mitarbeiter des medizinischen Zentrums jeden registrieren, der den Impfstoff erhalten hat. Der Impfstoff wird nicht injiziert, sondern oral eingenommen: Kinder schlucken das Arzneimittel vom Löffel. Jetzt bekommen sie keine Poliomyelitis (allgemein bekannt als Polio) mehr - eine gefährliche Krankheit, die die graue Substanz des Rückenmarks befällt und Lähmungen der Gliedmaßen verursachen und sogar tödlich enden kann. 

Der Polio-Impfstoff wurde in Japan lange erwartet. Im Sommer 1961 wurden 13 Millionen Dosen aus der Sowjetunion importiert. Zuvor hatten empörte Mütter monatelang auf der Straße protestiert und das Ministerium für Gesundheit und Soziales belagert. Die Regierung war sehr zögerlich, den Impfstoff aus Moskau zu kaufen.

Aber wie kam es, dass die UdSSR im Kampf gegen Polio ganz vorne lag? 

Zwei Impfstoffe 

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Städte wuchsen und die Bevölkerungsdichte zunahm, nahm Polio bedrohliche Ausmaße an. Ausbrüche wurden häufiger und betrafen immer mehr Menschen. Die UdSSR war keine Ausnahme. Während 1950 2.500 Fälle (rus) registriert wurden, waren es 1958 schon mehr als 22.000.

1955 wurde in der UdSSR das Poliomyelitis-Forschungsinstitut gegründet. Es wurde von Michail Tschumakow (1909-1993), dem führenden Virologen der Sowjetunion, geleitet.

Dennoch war es nicht Tschumakow, sondern zwei amerikanische Wissenschaftler,- Jonas Salk und Albert Sabin, denen die Entwicklung zweier Vakzine gelang. Salk verwendete abgetötetes Virusmaterial, während Sabin einen Lebendimpfstoff entwickelt hatte. Die Zeit drängte. 

Die amerikanische Regierung genehmigte Salks inaktivierten Impfstoff, und dieser Typ wurde erstmals weltweit getestet und gekauft, auch in Japan. Auch die UdSSR hat die Salk-Methode ausprobiert, war aber damit nicht zufrieden. „Es wurde klar, dass der Salk-Impfstoff nicht für eine landesweite Kampagne geeignet war. Er erwies sich als teuer, es wurden mindestens zwei Dosen benötigt und die Wirksamkeit lag bei Weitem nicht bei 100 Prozent“, erinnert sich (rus) Michail Tschumakows Sohn Pjotr, ebenfalls Wissenschaftler.

Das Antivirus-Bonbon 

Trotz des Kalten Krieges arbeiteten die Wissenschaftler beider Länder kontinuierlich zusammen: Michail Tschumakow reiste nach Amerika und pflegte enge Kontakte zu Jonas Salk und Albert Sabin. Letzterer gab Tschumakow die notwendigen Stämme für die Herstellung des Lebendimpfstoffs - wie Pjotr Tschumakow berichtet. „Das ging ganz unkompliziert. Meine Eltern transportierten die Stämme in ihrem Gepäck.“ 

In der UdSSR wurde ein Lebendimpfstoff nach dem Sabin-Verfahren hergestellt und erfolgreich getestet. Ein Erfolgsfaktor war die Verabreichungsform, die Tschumakow für den Impfstoff auswählte. Er wurde als Süßigkeit hergestellt, um die Kinder nicht durch eine Spritze zu verängstigen. Feldversuche verliefen äußerst erfolgreich. Ab 1959 wurde der „Lebendimpfstoff" eingesetzt, um ein starkes Aufflammen von Polio in den baltischen Republiken rasch zu stoppen.

In der Folge stellte die UdSSR vollständig auf dieses Vakzin um und Polio konnte im ganzen Land ausgerottet werden. 

Die Situation in Japan 

Gegen Ende der 1950er Jahre war die Polio-Lage in Japan nicht so akut wie in vielen anderen Ländern. Jedes Jahr wurden 1.500 bis 3.000 Fälle registriert. Aus diesem Grund widmete die Regierung der Bekämpfung der Krankheit wenig Aufmerksamkeit - es wurde angenommen, dass die aus den USA und Kanada importierten Salk-Impfstoffdosen (in bescheidenen Mengen) ausreichen würden, um das Problem zu lösen.

1960 stieg die Zahl der entdeckten Fälle von Polio in Japan stark auf 5.600 - 80 Prozent davon waren Kinder. Es gab nicht genügend Dosen des Salk-Impfstoffs, um ein umfangreiches Impfprogramm durchzuführen, und außerdem wurde seine Wirksamkeit in Frage gestellt. Japans eigene Impfstoffprojekte waren erfolglos. Im ganzen Land brachen Proteste aus, als Sabins „Lebendimpfstoff“ auch außerhalb der UdSSR getestet und seine Wirksamkeit bewiesen war.

Die Eltern kranker Kinder forderten den Import des „Lebendimpfstoffs“. Die Behörden bezweifelten jedoch, dass der Impfstoff für die Japaner wirksam sein würde, die Regierung war nicht bereit, mit den „Roten“ zusammenzuarbeiten (Japan war zu diesem Zeitpunkt ein treuer Verbündeter der USA), und die Pharmaunternehmen waren mit ihren Verträgen mit nordamerikanischen Firmen zufrieden.

Wendepunkt 

Trotzdem wurde 1961 eine große nationale Bewegung gegründet, die aus Eltern, vielen Ärzten und politischen Aktivisten bestand. Sie alle forderten den Kauf des Impfstoffs aus der UdSSR und eine Massenimpfung.

Parallel zu den Protesten wurde auch geforscht: Masao Kubo, ein Wissenschaftler einer japanischen Ärztevereinigung, besuchte Moskau von Dezember 1960 bis Januar 1961, um die Zuverlässigkeit und Sicherheit des russischen Impfstoffs zu überprüfen. Die japanische Regierung hatte immer weniger Gründe, sich gegen einen Import zu sperren.  

Die Gründe gingen ihnen vollends aus, als am 19. Juni 1961 in Tokio protestierende Mütter das Gebäude des Ministeriums für Gesundheit und Soziales stürmten. Die Polizei konnte die Frauen nicht aufhalten. Sie formulierten ihre Forderungen an die Behörden, von Angesicht zu Angesicht. Am 22. Juni gab das Ministerium nach und es wurde angekündigt, dass die UdSSR Japan mit 13 Millionen Dosen des „Lebendimpfstoffs“ versorgen werde. Die Lieferungen wurden schnell über den Vertrieb des japanischen Unternehmens Iskra Industry organisiert.

Das Impfprogramm führte zu raschen Ergebnissen. Bis zum Herbst war die Verbreitung der Epidemie in Japan gestoppt. Einige Jahre und mehrere Impfkampagnen später war die Krankheit im Land praktisch ausgerottet.

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