Wie die UdSSR die „idealen“ Gemeinschaftsstädte baute (FOTOS)

Geschichte
ANNA SOROKINA
Die neuen Stadtteile sollten nicht nur das Wohnungsproblem der Arbeiter in kürzester Zeit lösen, sondern auch zum Vorbild einer neuen proletarischen Lebensweise werden.

In den 1930er Jahren, als die Sowjetunion ihr Industrialisierungsprogramm erweiterte und mit dem Bau von Fabriken im ganzen Land begann, strömten die Menschen aus den Dörfern und vom Land in die Städte. In den alten Stadtteilen war nicht genügend Platz vorhanden, und die Neuankömmlinge mussten in Zelten, unterirdischen Wohnungen und provisorischen Häusern leben. Es war wichtig, nicht nur Häuser, sondern auch die Infrastruktur zu bauen.

Diese neuen Städte sollten „sozialistische Städte“ werden und binnen kürzester Zeit Millionen von Menschen Wohnraum bieten und gleichzeitig die ideologischen Ziele der Zeit repräsentieren. Menschen, die an Privateigentum gewöhnt waren, erhielten nun von der Regierung Wohnungen und Sozialleistungen. Alle bereitgestellten Güter und Dienstleistungen, von Möbeln bis zu Unterhaltungsangeboten, waren für jeden gleich. 

Die ersten sozialistischen Städte wurden nach den Entwürfen ausländischer Konstrukteure gebaut. Zwischen 1930 und 1933 lud die sowjetische Führung eine Gruppe von 17 deutschen und österreichischen Architekten und Stadtplanern ein. An der Spitze der Gruppe stand Ernst May, ein Ideologe für massenstandardisierte Wohngebäude. Er war der führende Baumeister der Stadt Frankfurt am Main, wo funktionale Wohnviertel gebaut wurden, darunter Häuser und soziale Einrichtungen. 

Die „May-Brigade“ war an der Planung von mindestens 20 sozialistischen Sowjetstädten beteiligt, von denen sich die meisten im Ural und in Sibirien befanden (Nowokusnezk, Magnitogorsk, Nowosibirsk und viele andere), und bot eine neue Perspektive für die Stadtplanungspolitik.

Die neuen Stadtteile trugen die Namen von Fabriken. Innerhalb einiger Metropolen gab es gleich mehrere sozialistische Städte oder Dörfer. In Kasan hießen die sozialistischen Städte beispielsweise Aviastroja, Aviakombinata und Kasmaschstroja. In Stalingrad gab es sozialistische Städte für Chemiker, Schiffbauer und Traktorenfabrikarbeiter.

Die Hauptsache, die sozialistische Städte von anderen Bezirken unterschied, war die sorgfältige Planung der neuen Siedlungen. Das Leben in sozialistischen Städten war auf Gemeinschaft ausgerichtet. Zusammen arbeiten und gemeinsam entspannen, war die Idee. Alltägliche Verpflichtungen wie Waschen oder Kochen sollten zentral von Gemeindedienstleistern übernommen werden. 

Die sozialistischen Städte waren charakterisiert durch flache Wohnbauten, ein Verwaltungszentrum, notwendige Geschäfte, Kantinen, Wäschereien und große und kleine Grünflächen zum Spazierengehen. Diese markierten zugleich die Trennlinie zwischen Fabrikgelände und Wohngebiet. In der Regel positionierten die deutschen Architekten die Rückseite der Häuser zur Straße hin, um den Außenlärm und die Staubmenge an den Fenstern zu reduzieren. Die Straßen führten in die Innenstadt. Diese Art von Gebäude wurde als Wohnreihe bezeichnet.

Für einen modernen Menschen scheinen diese Arten von Häusern vielleicht nicht die attraktivsten zu sein. Für die damalige Zeit waren sie jedoch äußerst innovativ. 

Die Wohnungen waren funktional ausgestattet, verfügten aber über alle Annehmlichkeiten der damaligen Zeit, die in der UdSSR für die Mehrheit der Menschen unzugänglich waren. Dazu gehörte beispielsweise ein Badezimmer. In Nowokusnezk, einer Industriestadt in Südsibirien, wurden nach dem Entwurf der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die ebenfalls zur „May-Brigade“ gehörte, „Frankfurter Küchen“ in den Wohnungen installiert. Diese ergonomischen Küchendesigns, die weltweit eine echte Revolution darstellten, vereinfachten das Kochen erheblich. Es war jedoch kein Platz, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Die Freizeit sollte gemeinschaftlich mit den anderen Stadtbewohnern verbracht werden. 

In vielen Städten in diesen Bezirken bestand das Wohnangebot nicht aus Privathäusern, sondern aus Gemeinschaftshäusern, die den utopischen Vorstellungen vom gemeinsamen Leben am besten entsprachen. Nach den damaligen sowjetischen Normen hatte eine Person innerhalb des Gemeinschaftshauses Anspruch auf neun Quadratmeter zum Wohnen.  

Bereits Mitte der 1930er Jahre waren sowjetische Spezialisten mit der Planung sozialistischer Städte beschäftigt. Neue Stadtteile mit langgezogenen Gebäuden und breiten Straßen wurden geplant. Die Häuser wuchsen auch vertikal: 7- und 9-stöckige Gebäude mit Erkerfenstern, Loggien (überdachte Balkone) und Skulpturen im Stalin-Stil. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie in Russland der Zweite Weltkrieg bezeichnet wird, gab es die Notwendigkeit, zerstörte Häuser zu restaurieren, und die sowjetischen Architekten wandten sich der schnörkellosen Plattenkonstruktion zu, einer Bauweise aus vorgefertigten Betonplatten, die darauf abzielte, jede Familie mit einer abgeschlossenen Wohneinheit zu versorgen. 

Heute sind diese sozialistischen Städte zu Pendlerstädten geworden, in denen Menschen aller Schichten leben. Es ist auch nicht notwendig, in einer Fabrik zu arbeiten, um dort leben zu dürfen. Diese historischen Viertel gelten in einigen Städten als architektonisches Erbe. Es werden sogar Führungen organisiert, um sie zu besichtigen. 

>>> Plattenbauten und verkehrte Häuser: Sowjetische Architekturexperimente