Fridtjof Nansen leistete einen großen Beitrag zur Erforschung der Arktis und wurde zu einer Inspiration und einem Vorbild für eine ganze Generation von Polarforschern. Internationalen Ruhm erlangte er jedoch nicht nur aufgrund seiner Expeditionen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Er war auch berühmt für seine humanitäre Arbeit, für die er 1922 den Friedensnobelpreis erhielt. Er half Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs, Flüchtlingen im Nachkriegseuropa und Armeniern, die vor dem Völkermord in der Türkei geflohen waren. Nansen hat auch viel getan, um Menschen zu helfen, die in den frühen 1920er Jahren in Sowjetrussland unter großem Hunger litten.
Hungernde Kinder während einer Hungersnot in Sowjetrußland. Ein Foto von Nansen.
Public DomainDie Hauptursachen für die schreckliche Hungersnot von 1921 bis 1922 waren der Bürgerkrieg, der der Wirtschaft des Landes massiv geschadet hat und eine schwere Dürre, die ein Fünftel aller Ernten vernichtet hat. Auch die Sowjetregierung half nicht weiter, die trotz der ohnehin schwierigen Situation vermehrt Getreide von den Bauern forderte.
Die Hungersnot traf große Teile des Landes mit über 90 Millionen Einwohnern: von den Steppen Kasachstans und des Uralgebirges bis zur Wolga-Region, der Südukraine und der Krim. „Die Hütten standen verlassen, ohne Dächer und mit Fenstern und Türen wie leere Augenhöhlen. Die Strohdächer waren schon lange entfernt und gegessen worden. Natürlich gab es im Dorf kein einziges Tier mehr - keine Kühe, keine Pferde, keine Schafe, keine Ziegen, keine Hunde, keine Katzen, nicht einmal Krähen. Alles war gegessen worden. In den schneebedeckten Straßen herrschte tödliche Stille“, erinnerte sich ein Augenzeuge dieser Ereignisse, der Soziologe Pitirim Sorokin.
Ein Paar mit ihren hungernden Kindern während einer Hungersnot in Sowjetrussland.
Getty ImagesDie sowjetische Führung begann die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Die Menschen flohen massenhaft aus dem Land, die Sterblichkeit war in die Höhe geschossen und Kannibalismus verbreitete sich. Nachdem die Bolschewiki den wirklichen Zustand des Landes lange Zeit verschwiegen hatten, waren sie im Sommer 1921 gezwungen, öffentlich an die Weltgemeinschaft um Hilfe zu appellieren. Und die kam.
Damit sich der Westen und Sowjetrussland, die sich gegenseitig feindselig und misstrauisch gegenüberstanden, auf die Organisation und die Bedingungen für die Bereitstellung von Hilfe einigen konnten, wurde eine Person benötigt, die viel Einfluss hatte und den Respekt beider Seiten genoss. Diese Person war Fridtjof Nansen, der aus Altersgründen nicht mehr auf Arktisexpeditionen ging, sondern sich ganz auf seine humanitäre Arbeit unter seiner Schirmherrschaft konzentriert hatte. Er leitete das neue Internationale Hilfskomitee für Russland, auch bekannt als Nansen-Mission.
Im Herbst desselben Jahres besuchte Nansen das Land, um sich selbst ein Bild vom Ausmaß der Hungersnot zu machen. „Das Schrecklichste war unser Besuch auf dem Friedhof, wo es einen Haufen von 70 oder 80 nackten Körpern gab, hauptsächlich von Kindern, die in den letzten zwei Tagen gestorben waren und aus Waisenhäusern dorthin gebracht oder einfach von der Straße aufgesammelt worden waren“, erinnerte sich der Norweger voller Entsetzen.
Fridtjof Nansen in Russland im Jahr 1923.
National Library of NorwayNach seiner Rückkehr unternahm Nansen eine Reihe von Reisen in europäische Länder und in die USA, wo er erschütternde Fotos der Hungernden zeigte und nicht nur die Staatsoberhäupter, sondern auch die Öffentlichkeit um Hilfe bat. Die Nansen-Mission wurde schließlich von 30 gemeinnützigen Organisationen aktiv im Kampf gegen die Hungersnot unterstützt.
Hunderte Mitglieder der Nansen-Mission reisten nach Russland. In Waisenhäusern, Bahnhöfen und Fabriken in den am schlimmsten betroffenen Teilen des Landes (Wolga-Region und Ukraine) wurden kostenlose Kantinen eröffnet. Feldküchen, von denen 210 von der International Save the Children Union an die Nansen-Mission gespendet worden waren, wurden in die Dörfer geliefert. In jeder von Ihnen konnte mehrere hundert Menschen versorgt werden.
Fridtjof Nansen in Russland.
ICRC archives (ARR)Jede hungernde Person erhielt einen halben Liter Suppe und etwas mehr als 100 Gramm Weißbrot pro Tag. Darüber hinaus verteilten die Missionsmitarbeiter Hilfspakete, die von den Menschen im Westen mit Mehl, Fleischkonserven, Rosinen, Reis, Sardinen, Kakao und anderen Lebensmitteln geschickt wurden.
Nansens Organisation erhöhte die Lebensmittelrationen fortlaufend. So stieg beispielsweise zwischen März und Mai 1922 allein für die Wolgastadt Saratow die Versorgung mit Nahrungsmitteln um fast 150 Prozent. Insgesamt ernährte die Nansen-Mission bis zum Sommer 1,5 Millionen Kinder und Erwachsene in Russland.
Die Nansen-Mission war nicht die wichtigste gemeinnützige Organisation, die sich Anfang der 1920er Jahre mit der Hungerhilfe in Russland befasste. Eine nichtstaatliche US-amerikanische Organisation lieferte bis zu 90 Prozent aller Nahrungsmittelhilfen nach Russland.
Lieferungen von der American Relief Administration.
ICRC archives (ARR)Von allen Ausländern, die den Hungeropfern halfen, war Nansen jedoch unter den Russen am beliebtesten. Er kannte Russland und das Volk gut, drückte keine offene Feindseligkeit gegenüber dem Bolschewismus aus und befürwortete die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Sowjetregierung und den westlichen Führern.
Fridtjof Nansen besuchte Russland mehrmals, um zu überprüfen, wie effektiv seine Mission dort war. Einmal wurde er gefragt, ob er Angst habe, durch die von Hunger und Typhus heimgesuchte Wolga-Region zu reisen. Er antwortete: „Ich habe es schon schlimmer erlebt. Und hier leiden gute Menschen so schwer.“
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