Die erste flächendeckende Hungersnot traf das russische Reich unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs. Die Wirtschaft des Landes hat sehr unter diesem Bürgerkrieg gelitten. Das führte zu Nahrungsmittelknappheit. Ein weiterer verschärfender Faktor war die extreme Dürre von 1921, die ein Fünftel der Ernte des Landes zerstörte. Die Regierung hatte angeordnet, Getreide aus der Bevölkerung zu beschlagnahmen, was die Situation weiter verschlimmerte.
Bald breitete sich die Hungersnot über große Teile des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 90 Millionen Einwohnern aus, von der kasachischen Steppe über den Ural bis hin zur Südukraine und der Krim.
Als der Soziologe Pitirim Sorokin 1921 Dörfer in den Regionen Saratow und Samara besuchte, machte er folgende Beobachtungen (rus): „Hütten, die verlassen standen, Dächer fehlten, leere Fensteröffnungen und keine Türen. Die einst vorhandenen Strohdächer wurden schon vor langer Zeit abgebaut und gegessen. Tiere gab es im Dorf nicht mehr: keine Kühe, Pferde, keine Schafe, Ziegen, Hunde oder Katzen - nicht einmal Krähen. Auch sie wurden gegessen. In den schneebedeckten Straßen war es totenstill.“
Ein umfassender Exodus hatte begonnen. Die Menschen verkauften all ihre Besitztürmer und zogen planlos von dannen, so lange die Beine sie trugen. Kannibalismus war in einigen Gegenden weit verbreitet. Menschen wurden am helllichten Tag auf der Straße gejagt und ermordet, um sie zu verzehren. Eltern töteten ihre Kinder und aßen sie. So wollten sie dem Nachwuchs den qualvollen Hungertod ersparen und sich selbst am Leben erhalten.
Kannibalen mit ihren Opfern
gemeinfreiDie Sowjetregierung hatte die schreckliche Wahrheit lange Zeit verborgen, doch schließlich wurde im Sommer 1921 beschlossen, sich mit einem Hilferuf an die internationale Gemeinschaft zu wenden. Zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen sowie der berühmte Polarforscher Fridtjof Nansen reagierten sofort, sammelten Hilfsgüter und lieferten diese teils persönlich aus. Diese Unterstützung ermöglichte es dem Land in Kombination mit einer guten Ernte in 1922, die Ausweitung der Katastrophe zu stoppen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Hungersnot bereits fünf Millionen Menschenleben gekostet.
Zehn Jahre später kam es jedoch zu einer weiteren Hungerkatastrophe. Der schmerzhafte Prozess der Kollektivierung von privatem Landbesitz, die Umwandlung in Kolchosen, und die Enteignung von Landwirten waren die Ursache. Erneut löste die Hungersnot eine Fluchtwelle aus. Die Regierung entschied sich, sich unwissend zu geben. Lediglich erhöhte sie die Produktionsquoten für Brot. Proteste der Bauern wurden als Sabotageakt eingestuft und Aufstände niedergeschlagen.
Die Lokalregierungen saßen zwischen den Stühlen. Einerseits versuchten sie die Quoten zu erfüllen, andererseits Strafen abzuwenden, wenn das nicht gelingen sollte. Moskau erhielt daher viele falsche oder verzerrte Informationen. Das schreckliche Ausmaß des Elends war ihr nicht vollumfänglich bekannt.
Daher hatte die Hungersnot von 1932 bis 1933 den größten Teil der Ukraine, des Kaukasus, Kasachstans, Weißrusslands, Westsibiriens und einiger anderer Regionen im europäischen Russland erfasst. Die Schrecken der 1920er Jahre waren wieder zurückgekehrt.
Bewohner der Region Kuban erinnerten sich (rus): „Niemand schenkte den Toten noch Beachtung, niemand hatte mehr die Kraft. Es gab nur noch völlige Gleichgültigkeit. Wieder gab es Kannibalismus, wieder verschwanden viele Kinder. In Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) fanden ein Arbeiter und sein Sohn ihre Namen nicht auf der Liste für die monatlichen Lebensmittelrationen. Sie begingen noch am gleichen Tag Selbstmord, indem sie sich vor eine Straßenbahn warfen. Später stellte sich heraus, dass sie einfach nur vergessen worden waren.“
Mehr als sieben Millionen Menschen starben an den Folgen der Hungersnot von 1932/33. Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Opfer Ukrainer waren, hat dazu geführt, dass Forscher von einem Völkermord sprechen. Sie bezichtigen die Sowjetunion des absichtlichen Holodomors (rus) an der ukrainischen Bevölkerung. Holodomor ist eine Wortschöpfung, die bedeutet, jemanden verhungern zu lassen. Russland hat dazu eine eigene Meinung (rus), nämlich dass die sowjetischen Regionen in gleichem Ausmaße von der damaligen Politik betroffen waren. Zudem ordnete Stalin im Jahr 1933 höchstpersönlich Getreidelieferungen in die Ukraine an, zum Nachteil anderer Regionen im Sowjetstaat.
Mehr als 630.000 Bewohner Leningrads (heute Sankt Petersburg) starben während der 872-tägigen Blockade Leningrads durch deutsche und finnische Streitkräfte an Hunger. Die Menschen hatten in der Not alle Hunde und Katzen der Stadt gegessen und auch die Vögel. Sie aßen sogar Vogelfutter, Medikamente, Kuchen aus Sonnenblumen, Holzleim, Tierhäute und Ledergürtel.
Die Hungersnot von 1946/47 war das Ergebnis des zerstörerischen Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Dürre von 1946, die zu niedrigen Ernteerträgen führte. Trotzdem hätte eine Tragödie abgewendet werden können (die UdSSR verfügte über enorme Getreidevorräte), wenn nicht die katastrophale Entscheidung getroffen worden wäre, die Getreideexporte um fast das Doppelte der Vorkriegsmengen zu steigern. Abgesehen davon wollte man die Reserven halten, aus Angst vor einem erneuten Krieg, diesmal gegen ehemals Verbündete. Die Regionen erhielten daher keine Lieferungen und mussten uneingeschränkt in den bisherigen Mengen produzieren. Die daraus resultierende Hungersnot forderte das Leben von 1,5 Millionen Menschen.
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