Spukgeschichten: Wie im Russischen Reich die Toten angerufen wurden

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Die High Society von St. Petersburg im späten 19. Jahrhundert war fasziniert von der Vorstellung, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Vor dem Glauben an diese Pseudowissenschaft waren auch gebildete Russen nicht geschützt und erlagen dem Reiz des Spiritualismus.

In den 1850er Jahren verbreitete sich der Spiritualismus von den USA nach Europa und kam bald in den Salons der oberen Zehntausend in Russland an. Die Reichen waren desillusioniert von der institutionalisierten Religion, suchten jedoch auch eine exotische Beschäftigung, um ihre viele Freizeit auszufüllen.  

Was ist Spiritualismus? Das Wort leitet sich vom lateinischen Wort „spiritus“ (Geist) ab und war ein philosophischer Trend, der auf dem Glauben an das Leben nach dem Tod beruhte. Mystiker, die als „Medien“ fungierten, sollten mit den Geistern der Toten kommunizieren können.

Heute wissen wir, dass Spiritualismus nichts anderes als eine betrügerische Show war, die für ein verblüffend naives Publikum aufgeführt wurde. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren viele Menschen von dieser Bewegung fasziniert und nahmen sie sehr ernst. 

Es begann 1848, als eine New Yorker Zeitung einen mutmaßlichen Fall mystischer Kommunikation beschrieb, den Kate (11 Jahre) und Maggie Fox (14 Jahre) erlebten. Die beiden verlogenen und schelmischen Schwestern behaupteten, sie hätten Kontakt mit dem Geist eines Mannes aufgenommen, der in ihrem Haus ermordet wurde.

Die Schwestern Fox (l-r): Margaret, Catherin und Leah

Nichts davon entsprach der Wahrheit, aber das kam erst 40 Jahre später ans Licht, als die Schwestern zugaben, dass es ein Scherz war. Bis dahin war es jedoch schon zu spät. Spiritualismus war bereits ein hysterischer Hype in Nordamerika und Europa. 

Der Okkultismus erreicht Russland 

Die ersten okkulten Sitzungen in Moskau und St. Petersburg fanden 1853 statt und wurden schnell unter einer kleinen Gruppe in den höchsten Kreisen beider Städte populär. In den 1870er Jahren waren auch einfachere Russen davon überzeugt, dass es möglich sei, in Kontakt mit den Toten zu treten und Séancen waren in der städtischen Gesellschaft weit verbreitet. 

Diese Séancen waren derart in Mode, dass der renommierte Wissenschaftler Professor Dmitri Mendelejew 1875 vorschlug, eine Kommission zur Untersuchung spiritueller Phänomene zu bilden. Während deren Erkenntnisse den Spiritualismus als Irrglauben kritisierten, hatte dies jedoch keinen Einfluss auf die wahren Gläubigen. 

Der Spiritualismus hatte in Russland mächtige Anhänger wie Staatsrat Alexander Aksakow, den Professor für Zoologie an der Universität St. Petersburg Nikolai Wagner und den Chemiker Alexander Butlerow aus St. Petersburg.

„Der Spiritualismus erregte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dank Medienartikeln, die über solche Phänomene berichteten und das Interesse daran förderten“, so Natalja Weprikowa, führende Expertin für Spiritualismus am Staatlichen Museum für Religionsgeschichte (St. Petersburg). „Die Berichterstattung in der Presse hat die öffentliche Meinung stark beeinflusst, nicht nur durch die Neuartigkeit und Exotik des Spiritualismus, sondern auch durch die Tatsache, dass herausragende Wissenschaftler als überzeugte Apologeten auftraten.“

Um „Kontakt“ mit dem Reich der Toten herzustellen, mussten nach dem Spiritualismus zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die „Geister“ selbst mussten sich wünschen, mit den Lebenden zu kommunizieren und ein Medium musste anwesend sein, das wusste, wie man diesen „Kontakt“ zu den Toten herstellt. 

Dazu versammelte man sich in einem dunklen Raum. Die Organisatoren einer solchen Séance nutzten Ton- und Lichteffekte, Klopfen, Vibrationen oder sich bewegende Gegenstände und ließen das Medium in Trance bizarre Äußerungen und Laute tätigen. 

Fachzeitschriften für Spiritualismus entstanden, in denen Séancen ausführlich beschrieben wurden. Die Berichte wurden nach strengen Regeln verfasst: Zeit und Ort der Séance, Name des Mediums und bizarre Ereignisse. Viele Menschen wollten das „Wunder“ eines „Kontakts“ mit den Toten persönlich erleben. „Die Leidenschaft für Okkultismus in Russland erreichte beispiellose Ausmaße und sogar Mitglieder der kaiserlichen Familie traten in geheime okkulte Gesellschaften ein“, sagt Weprikowa. „Manchmal wandten sich die Romanows sogar bei strategischen Staatsentscheidungen an ‚Propheten‘ und ‚Astrologen‘ und holten deren Rat ein.“  

Bis 1910 überstieg die Zahl der spirituellen Gruppen in Russland 3.500, von denen mindestens 1.000 allein in St. Petersburg aktiv waren. Die meisten Anhänger kamen aus aristokratischen Kreisen. Aber auch unter Intellektuellen, Angehörigen kreativer Berufe und sogar unter Geistlichen war der Spiritualismus weit verbreitet. „Die Begeisterung der russischen Intelligenz für Spiritualismus und Tischrücken wurde durch die Wahrnehmung der Bewegung als Teil komplexerer religiöser und mystischer Lehren gefördert“, erklärt Weprikowa. 

Mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki im Jahr 1917 verlor der Aberglaube an Bedeutung. Die sowjetischen Behörden ließen okkulte Gesellschaften und ihre Aktivitäten überwachen. In den frühen 1930er Jahren hörten praktisch alle spirituellen und okkulten Gesellschaften in der Sowjetunion auf zu existieren. Mitglieder dieser Gruppen wurden wegen antisowjetischer Agitation und konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt.

Seit den 1990er Jahren sind spirituelle Gesellschaften in Russland offiziell wieder erlaubt, aber die Begeisterung für den Spiritualismus ist heute weitaus geringer als vor mehr als einem Jahrhundert.

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